Britannien: Alles wird gut

Nach Jahren der Rezession verzeichnen Statistiker erstmals ein Wachstum der Wirtschaft / Sogar die Arbeitslosenzahlen sinken  ■ Aus London Ralf Sotscheck

Aus Großbritannien kommt zur Zeit eine Erfolgsmeldung nach der anderen: Die Industrieproduktion steigt unaufhaltsam – im Januar um 1,3 Prozent, im Februar um 1,2 Prozent. Dadurch hat sich auch die marode Währung wieder etwas gefestigt. Das Pfund ist seit Mitte Februar um fünf Prozent gestiegen, so daß die Bank von England inzwischen ihre Devisenkonten auffüllen konnte. Diese hatte sie im vergangenen Jahr bei dem vergeblichen Versuch, das Pfund im Europäischen Wechselkurssystem zu halten, restlos geplündert. Damals gab sie an einem einzigen Tag fünf Milliarden Pfund vergeblich zur Stützung aus.

Der britische Finanzminister Norman Lamont hat diese Woche nun offiziell das Ende der Rezession verkündet, weil die amtlichen Statistiker im ersten Quartal 1993 ein Wirtschaftswachstum um 0,2 Prozent gegenüber dem vorhergehenden Quartal verzeichneten – immerhin das erste Mal seit zweieinhalb Jahren, daß ein Wachstum zu verzeichnen war. Der Mini- Aufschwung hat offenbar bei Großbritanniens Unternehmen Zuversicht ausgelöst. Bei einer Umfrage gaben zwei Drittel der befragten Direktoren an, daß sie mehr Vertrauen in die wirtschaftliche Entwicklung haben als noch vor sechs Monaten.

Auch von der Autobranche sind optimistische Töne zu hören. Im März wurden über 140.000 Autos gebaut – 7,7 Prozent mehr als zwölf Monate zuvor. Und der Häusermarkt zeigt ebenfalls erste Anzeichen der Erholung. Das Immobiliengeschäft verzeichnete im März gegenüber dem Vorjahr einen Zuwachs von neun Prozent.

Da sich das Pfund offenbar gefangen hat, rechnen Experten mit einer weiteren Senkung der Zinsrate im Herbst. Die neue Statistik hat die britische Währung zum ersten Mal seit 14 Wochen wieder über 2,50 Mark gedrückt. Dafür erlebte die Börse einen Rückgang, weil ein starkes Pfund die Exporte gefährdet.

Die für Premierminister John Major wichtigste Zahl kommt jedoch aus den Arbeitsämtern: Im März waren 46.000 Arbeitslose weniger als im Vormonat registriert. Bereits im Februar war die Zahl zum ersten Mal in 34 Monaten gesunken – um 25.500. Offiziell beträgt die Arbeitslosigkeit jetzt 10,5 Prozent und liegt knapp unter drei Millionen. Major behauptete prompt, daß die „Bedingungen für eine wirtschaftliche Erholung äußerst günstig“ seien. Hat Großbritannien die längste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg überstanden?

Die Labour Party und verschiedene Arbeitslosen-Organisationen bleiben mißtrauisch. Frank Dobson, der Arbeitsminister im Labour-Schattenkabinett, zeigte sich zwar erfreut über den Rückgang der Arbeitslosigkeit, fügte jedoch hinzu: „Ich hoffe, daß es sich dabei um einen echten Rückgang handelt, und nicht um das Ergebnis eines neuen statistischen Schwindels.“ Ebensowenig ist die Produktionssteigerung ein Grund für Euphorie. Im Vergleich zum Februar vergangenen Jahres beträgt sie nämlich nur ein halbes Prozent. Die Produktion liegt sogar um sechs Prozent niedriger als vor der Rezession. Dennoch frohlockt Finanzminister Norman Lamont. Er behauptet, die Aussichten für die Industrie seien in den kommenden Monaten hervorragend. Freilich nimmt ihn kaum noch jemand ernst, sagt er das Ende der Rezession doch schon seit seinem Amtsantritt vor anderthalb Jahren voraus.

Diesmal allerdings stimmen unabhängige Wirtschaftsanalysten in den optimistischen Chor ein. Keith Skeoch von der Firma James Capel sagte vergangene Woche: „Es sieht nicht wie ein falscher Hoffnungsstreif aus.“ Und Marian Bell von der Royal Bank of Scotland glaubt fest daran, daß die sinkende Arbeitslosigkeit der endgültige Wendepunkt sei: Neben demographischen Faktoren, so Marian Bell, sorge vor allem die Reform des Arbeitsmarkts in den achtziger Jahren dafür, daß sich das Wirtschaftswachstum jetzt sehr schnell in der Anzahl neuer Jobs niederschlage.

Die neuen Zahlen deuten trotz Majors und Lamonts Propaganda- Offensive jedoch lediglich darauf hin, daß sich die britische Wirtschaft ein Stück des verlorenen Bodens zurückerobert und langsam wieder auf den Stand von 1989 oder 1990 klettert. Genau das war jedoch Ende letzten Jahres vorauszusehen. Schließlich sind damals verschiedene Faktoren zusammengekommen: der Ausstieg aus dem Wechselkursmechanismus und die darauf folgende Abwertung der britischen Währung, die drastische Senkung der Zinsrate und eine Neuaufnahme öffentlicher Kredite. Die Kredite der öffentlichen Hand haben inzwischen Rekordhöhe erreicht: Im März mußten weitere 9,5 Milliarden Pfund aufgenommen werden – mehr als je zuvor in der britischen Geschichte. Die Regierung hat den im Budget vorgesehenen Kreditrahmen im Haushaltsjahr 1992/93, das Anfang des Monats abgelaufen ist, um 1,5 Milliarden Pfund überschritten.

Es wäre höchst erstaunlich, hätte die Wirtschaft auf die massiven Eingriffe nicht reagiert. Der so oft beschworene „Aufschwung“ wird deshalb wohl für den Rest des Jahres andauern, das Wachstum sollte mindestens zwei Prozent betragen. Doch was geschieht danach? Es ist das erste Mal, daß eine wirtschaftliche Erholung mit einer negativen Handelsbilanz beginnt, die Importe die Exporte weit übersteigen. Die Expansion wird wahrscheinlich zu einem verstärkten Importboom führen – und dadurch zu einem gigantischen Handelsdefizit.

Dieses Defizit in Verbindung mit einem Immobilienboom und der zunehmenden Ausgabenfreudigkeit der Verbraucherschaft wird die Inflation anheizen und das Pfund wieder in den Keller drücken. Wenn dann die Zinsrate angehoben werden muß, wird die Erholung der Wirtschaft schon im Keim erstickt.

So sind die langfristigen Aussichten für die britische Wirtschaft keineswegs rosig. Bis zu den nächsten Parlamentswahlen wird Major den Aufschwung kaum retten können.