Wind von rechts außen

Leander Haußmann, Star des Theatertreffens, hat im Berliner Schillertheater „Don Carlos“ inszeniert  ■ Von Petra Kohse

Ein Anfang wie er nicht im Buche stehen kann: Ein sonst schwarzer Rundprospekt zeigt im unteren Drittel das brennende Flandern, davor tut die Drehbühne ihre Pflicht, während die Windmaschine nach Kräften in die entgegengesetzte Richtung bläst. Zu einer anschwellenden rhythmischen Musik kommt ein Trüppchen Wanderschauspieler, mit den Theaterelementen kämpfend, mühsam, aber entschlossen aus der Tiefe der Bühne nach vorne – der furiose Beginn eines furiosen Abends, der vier volle Spielstunden währt.

Leander Haußmann hat Schillers „Don Carlos“ inszeniert. Es ist seine zweite Arbeit am Berliner Schillertheater (die erste war „Clavigo“, nicht „Minna von Barnhelm“, wie am Donnerstag auf diesen Seiten irrtümlich bemerkt wurde und wofür hier um Verzeihung gebeten werden soll), und sie belegt einen beträchtlichen Zuwachs an Sinnfälligkeit und Konzentration.

Gemeinsam mit seinem Dramaturgen Thomas Potzger hat Haußmann Schillers „dramatisches Gedicht“ durch einige Szenen bereichert, die die Freidenkerfigur des Posa stärken: Die Schauspieler, denen am Anfang der Wind der Geschichte so hartnäckig um die Ohren pfeift, wollen am Hofe PhilippsII. ausgerechnet den „Egmont“ aufführen, das Drama um den flandrischen Volkshelden im Kampf gegen die spanische Herrschaft. Später wird ihnen ein Kind geboren, das sie nach ihm benennen. Die Dame der Truppe kommt gerade dann in die Wehen, als sich das politische Intrigenspiel zuspitzt, dem am Ende der um die Freiheit Flanderns bemühte Posa zum Opfer fällt. Sein Freund und Ziehbruder im Geiste, der Infant Don Carlos, der unseligerweise seine Stiefmutter liebt, wird vom königlichen Vater an die Inquisition ausgeliefert. Es siegt die Reaktion, der Wind der Geschichte bläst jetzt Papierschnee über die Bühne, den ein Sensenmann ausstreut. An treffender Bildlichkeit mangelt es dieser Inszenierung, die über die riesige, von Bernhard Kleber mit bemalten Gazevorhängen und einem verschiebbaren Festungsaufbau ausgestattete Bühne tobt, nicht.

Haußmanns größte Qualität ist die phantasievolle Anleitung seiner Schauspieler zu einem explosiv-expressiven Darstellungsstil, den er seit einigen Jahren kultiviert und der hier das Figurenverständnis meisterlich fördert. Wenn einer wütend ist, dann rast er auch wirklich quer über die Bühne, wenn er glücklich ist wie Dirk Nockers Carlos, der einen Brief seiner Königin empfängt, dann jubelt und springt er und setzt mit einem kühnen Sprung ins Publikum, wo er selig das Geläut der Himmelsglocken dirigiert. In der sprachlichen Expressivität brilliert vor allem die bewährte Haußmann-Schauspielerin Steffi Kühnert. Sie verleiht ihrer jugendlichen Königin einen Hauch von Gossenton und übersetzt jede Situation oder Befindlichkeit augenblicklich in Stimme: Die Worte werden herausgewürgt, zerhackt, gedehnt oder gleiten wie Sirup an ihr herunter. Kühnert, Nocker sowie Martin Olbertz als Posa oder auch Susanne Böwe als Prinzessin von Eboli wohnen so sicher in den ungestümen Geschichten ihrer Figuren wie im eigenen Wohnzimmer. Man ächzt oder keift, wenn es die Haltung verdeutlicht, schreit „Scheiße“, windet sich am Boden oder geht dreimal ab, um die Bedeutung des Kommenden zu unterstreichen.

Nicht weniger einsichtig als diese jungen Wilden, aber deutlich ruhiger agieren die reaktionären Drahtzieher des blutgetränkten spanischen Imperiums: Ezard Haußmann in der Rolle des Königs, Ralf Dittrich als Alba, Gerald Fiedler als Domingo und Erich Schellow als Großinquisitor. Schillers dramatisches Gedicht ist bei Leander Haußmann eine scharfe Attacke gegen die Reaktion, der ein durch den Kontrast der Darstellung klar formulierter Hoffnungsschimmer innewohnt. Der Sieg der Macht wird hier als letzter gezeigt. Lange können die Alten den anstürmenden Fackelträgern der Gedankenfreiheit nicht mehr widerstehen. Ob die Drehbühne ihren Kurs dann allerdings dauerhaft ändern wird und ob sich das rote Seidentuch, das am Ende der Inszenierung als stoffgewordene Blutspur über die Rampe tropft, langfristig zur Fahne erheben kann, ist fraglich. Denn der Wind der Geschichte dreht sich schließlich nicht. Und auf der Bühne des Schillertheaters läßt man ihn von rechts außen wehen.

Schillertheater Berlin: „Don Carlos“. Regie: Leander Haußmann, Bühne: Bernhard Kleber. Darsteller u.a.: Susanne Böwe, Ralf Dittrich, Gerald Fiedler, Ezard Haußmann, Steffi Kühnert, Dirk Nocker, Martin Olbertz. Nächste Aufführungen: 5., 11. und 17. Mai