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Abschied vom Landespflegegeld

■ Sozialsenatorin will Streichung / Deputation: Aufschub bis zur Pflegeversicherung

Die Bremer Sozialsenatorin Irmgard Gaertner (SPD) will das Landespflegegeld für Blinde und Behinderte streichen. Die Aufhebung des entsprechenden Landesgesetzes zum 1.7.1993 wird heute im Senat beraten. Sie ist Teil eines Sparpaketes, mit dem die Senatorin ihre Sparquote von insgesamt 21,36 Mio. Mark für das nächste Haushaltsjahr erreichen will.

Bislang erhalten nach diesem Gesetz Blinde und Schwerstbehinderte eine vom Einkommen unabhängige monatliche Pflegepauschale von 750 Mark. 70 Prozent der Blinden und 80 Prozent der Schwerstbehinderten haben gleichzeitig auch Anspruch auf Pflegegeld nach dem Bundessozialhilfegesetz, erklärt die Behörde. Dieses Geld, maximal 955 Mark, wird allerdings — wie alle Ausgaben nach BSHG — einkommensabhängig verteilt. Wird das Bremer Gesetz gestrichen, kann das Land nach Angaben der Sozialbehörde 1993 noch 2 Mio. Mark sparen, 1994 sogar 5,5 Mio. Mark.

Die Sozialsenatorin hat sich mit diesem Plan gegen die Sozialdeputation gestellt. Die hat am letzten Donnerstag mit den Stimmen aller vier im Parlament vertretenen Fraktionen beschlossen, daß das Landespflegegeld frühestens mit der Einführung der Pflegeversicherung (evt.: 1996) gestrichen werden kann. „Die Abschaffung bedeutet für zu viele eine unzumutbare Härte“, erklärte die SPD- Deputierte Elke Steinhöfel. Mit diesem Vorschlag liebäugelt offenbar auch die Sozialsenatorin, die den Plan der Deputation als Alternative mit in ihre Vorlage für die heutigen Senatsberatungen geschrieben hat. Ohne die Zustimmung der Parlamentarier kann die Senatorin nicht sparen. Weil das Pflegegeld nach einem Bremer Landesgesetz ausgezahlt wird, kann die Streichung des Geldes ebenfalls nur über ein Gesetz mit Zustimmung der Abgeordneten erfolgen.

Heftige Proteste lösten die Senatspläne gestern bei Bremer Blindenorganisationen aus. Von einer „einzigartigen Zumutung“ und einem „Schritt in die sozialpolitische Steinzeit“ sprach der zweite Vorsitzende des Vereins der Blinden und Sehbehinderten

Bald ohne Blindengeld?Foto: Steinberg

in Studium und Beruf, Uwe Boysen. Die Vorsitzende des Bremer Blindenvereins, Renate Scheller- Stöber, befürchtet, daß behindertenspezifische Mehrausgaben, die zur Integration Blinder nötig sind, „demnächst nur noch von blinden Millionären“ geleistet werden können.

Beide Organisationen sind außerdem skeptisch, ob die Streichung des Gesetzes zu dem gewünschten Sparerfolg im Haushalt der Senatorin führen wird. Die Behörde geht davon aus, daß etwa 30 Prozent der Blinden nach den Vorlagen im BSHG aus der Pflegegeld-Regelung herausfallen werden. Diese Zahl, auf deren Grundlage die Sparmargen errechnet wurden, beruhen aber „nur auf Annahme“ (Scheller- Stöber). Außerdem produzierten die alljährlichen Einkommens- und Vermögensüberprüfungen neue Verwaltungsarbeit, die die Behörde wiederum tragen müßte.

Uwe Boysen vermutet, daß die Behörde klammheimlich darauf spekuliert, daß viele Bedürftige sich von der Einkommens- und

Vermögensüberprüfung von einem Antrag auf Pflegegeld nach BSHG abschrecken lassen. „Anträge sind immer ein sozialer Filter“, meint Uwe Boysen, nach dessen Ansicht das regelmäßige Ausfüllen von Formularen für Blinde unerträglich ist: „Man braucht immer jemanden, der einem das alles vorliest. „Ich will nicht sagen, daß die Sozialbehörde damit kalkuliert, aber wenigstens rechnen sie damit, daß einige ihre Anträge nicht mehr stellen werden.“

In Bremen leben derzeit 2.700 Menschen, die wegen Blindheit als Schwerbehinderte anerkannt sind. Nach Angaben der Sozialbehörde beziehen etwa 2.500 Menschen Landespflegegeld, darunter 800 Blinde. Das Landespflegegeld ist 1972 per Gesetz eingeführt worden, nach Angaben der Blindenvereine ist es seit Beginn der 80er Jahre nicht mehr erhöht worden. Landespflegegeld gibt es außerhalb Bremens noch in Rhenland- Pfalz, Berlin und Brandenburg, in allen anderen Bundesländern gibt es aber ein besonderes Pflegegeld für Blinde. mad

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