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„So, wie es jetzt ist, ist es unmöglich“

■ Interview mit der Arbeits- Sozialministerin von Brandenburg, Regine Hildebrandt

taz: Sie sind eine der letzten Politikerinnen der letzten DDR-Zeit, die unangefochten im Amt sind. Wie macht man das?

Regine Hildebrand: Man macht gar nichts. Man macht das, was nötig ist. Ich wollte eigentlich meinen Beruf überhaupt nicht aufgeben.

Was sind Sie von Beruf?

Diplombiologin. Ich habe erst in der pharmazeutischen Forschung gearbeitet und dann bei der Betreuung von Diabetikern im Labor, Das wäre auch heute sehr wichtig, weil diese Form von ambulanter Diabetiker-Betreuung im Westen nicht üblich ist. Und Sie wissen: Was im Westen nicht üblich ist, wird im Osten abgeschafft. Und deshalb wäre es für mich von besonderer Bedeutung gewesen, es hinzukriegen, daß diese Betreuung von chronisch Kranken hinzukriegen ist.

Aber ich habe mich damals breitschlagen lassen, für die Volkskammer zu kandidieren, und alles weitere hat sich automatisch ergeben. Bis hin zu dem Ministerposten bei de Maiziere. Und da hatte, das muß ich gestehen, mich die Sache gepackt. Nach ein paar Monaten hatte es sich gerade für mich angefangen, ein bißchen zu strukturieren, und dann platzte die Koalition auseinander. Da war ich von dem Gedanken besessen, weiter Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik machen zu können — im Osten.

Nach westlicher Terminologie müßte man sagen: Sie sind Quereinsteigerin. Hängt es damit zusammen, daß man in ihrer politischen Biografie keine dunklen Flecken gefunden hat?

Bei mir ist in dem Sinne nichts zu finden. Ich war nie in so exponierter Funktion wie Stolpe oder wie de Maiziere. Ich war auch gegen diesen Staat. Wir waren in einer Oppositionshaltung gegen diese Bevormundung, gegen diese Einmauerung. Es war bei mir nicht so wie in Stolpes Fall, dessen Aufgabe es ja geradezu war, die staatlichen Kontakte zu pflegen und auszulooten, damit andere den Freiraum der Kirche wirklich ausnutzen konnten.

Gibt es Verständigungs-Probleme zwischen Politikern, die aus der Opposition kommen wie Sie, und anderen, die aus Mittlerrollen kommen wie Stolpe?

Das ist alles Geschichte und Vergangenheit. Bei Stolpe scheiden sich wirklich die Geister. Ich muß sagen: Ich begreife die Bürgerbewegung nicht, wenn sie sich gegen Stolpe stellt und ihn als Stasi-Mann darstellt. Sie müßten es besser wissen, wie nötig es war, die Kirche im Rücken zu haben. Über Leute wie Stolpe konnten wir kalkulieren, wie das Risiko war, das wir eingingen, wenn wir zum Beispiel gegen den Wehrkundeunterricht in der Schule waren. Stolpe hat nach seinem Ermessen diesen Spielraum der Kirche ausgenutzt, er hat die Leute animiert, weiterzumachen, und er hat die Leute gebremst, wenn er der Meinung war, das geht zu weit.

Wir dachten: Wenn man reisen kann, wenn man Meinungsfreiheit hat, dann ist das die Seligkeit auf Erden.

Sie verstehen sich mit Stolpe im Kabinett?

Ja, Weil er ein Empfinden für soziale Gerechtigkeit hat, und weil er sehr gut die Befindlichkeit der Leute kennt und weiß, was man ihnen nicht mehr zumuten kann. Bei sozial sensiblen Themen ist er derjenige, der mich nach Kräften unterstützt.

Nach dem 9. November, in den ersten Monaten der neuen Volkskammer, hat es eine neue Utopie gegeben für die DDR. Heute muß die Politik ohne Utopie auskommen. Geht das?

Es gibt Leute, die können ohne Utopie nicht leben. Es gibt aber auch eine ganze Menge, deren Utopie schrumpft auf ein neues Auto zusammen oder auf ein bißchen mehr Lebensstandard, und das ist dann auch was, wofür es sich lohnt. Der Kummer ist, daß unsere Utopen an der Realität völlig zerbrochen sind. Der große Fehler in der DDR für mich war, daß wir durch dieses Verletztsein, durch die Bevormundung — was die Bewegungsfreiheit und was die Informationsfreiheit anlangte — daß wir so determiniert waren, daß wir den Blick auf das andere verloren haben. Wir dachten: Wenn man reisen kann, wenn man Meinungsfreiheit hat, dann ist das die Seligkeit auf Erden. Alle, die wir kannten im Westen, hatten ja Arbeit. Jetzt sehen wir, daß bestimmte gesellschaftliche Gegebenheiten dafür vorhanden sein müssen, wenn sich ein Gemeinwesen gesund entwickeln soll.

Dieses Eingemeuert-Sein hat uns so belastet, daß es eine übergroße Bedeutung bekam. Meine Kinder sind am Wochenende nach Schweden gefahren, sie hatten nur kurz Zeit, früh los, in der Nacht zurück. Früher sind wir doch nach Rügen gefahren und haben uns die Ostsee angeguckt, und wenn man dann irgendwo im Nebel die Schweden-Fähre gesehen hat, das war ein Aufschrei und alle strömten hin, um die Schweden-Fähre im Dunst zu sehen. Das war ein Schritt in Richtung Freiheit. Der Gedanke, man könnte damit fahren, wenn man Rentner ist, war die Seligkeit schlechthin. Durch dieses Eingemauertsein hat sich die Normalität etwas verschoben.

Und jetzt kommt die große Enttäuschung?

Ja. Natürlich reisen jetzt viele, wenn man auf einer Geburtstagsfeier ist, da war jeder in einem anderen Land. Aber das ist nur eine bestimme Schicht. Die anderen können nicht reisen. Wir legen Programme auf für Familienurlaub in der Schorfheide am Große Väter-See. Noch schlimmer ist es mit dem freien Wort. Die Überbewertung des freien Wortes in einem totalen Staat! Gucken Sie sich heute die Verhältnisse an! Man sagt: Geh bloß nicht in einen Buchladen, da verlierst Du den Überblick. So viele Sachen kommen auf den Markt, es ist beängstigend. Wir wollten lesen, was wir wollten, reden können, was wir wollten, jetzt liest keiner mehr und jeder kann irgendwelchen Mist erzählen, es achtet niemand darauf. Da sind große Enttäuschungen.

Fehlt es mehr an Geld, an Aufbauhilfe Ost, oder fehlt es mehr an geistiger Aufbau-Hilfe, an Utopie?

Wir haben sicher zu wenig Geld für Aufbau Ost, aber es wird viel gemacht. Am Geld fehlt es eigentlich nicht, es fehlt an Konzeptionen. Es fehlt auch nicht an Utopien, davon gibt es eine ganze Menge. Aber dieses Gemeinwesen starrt vor Ungerechtigkeit. Die Schere zwischen arm und reicht wird immer größer.

Im Osten.

Im Westen auch. Die Anzahl der Sozialhilfeempfänger steigt. Das fällt im Westen den Menschen vielleicht nicht so sehr auf. Im Osten können 50 Prozent der Menschen nicht mehr mit ihrer Hände Arbeit partizipieren. Diese Ausgrenzung und Abschiebung war früher bei uns undenkbar. In der DDR hatte jeder eine bezahlbare Wohnung — die waren schlecht, aber jeder hatte sie. Da gab es eine Durchmischung, da putzte mal die Frau vom Professor, mal die von gegenüber.

Es ist doch wichtig, daß man seine Wurzeln behält. Diese Entflechtung ist tödlich, die macht eine Gesellschaft kaputt.

Wo wohnen Sie jetzt?

Immer noch da, wo ich früher gewohnt habe. Mitten in Berlin. weil ich doch merke, was für eine Rolle das spielt. Es ist doch wichtig, daß man seine Wurzeln behält. Die normale Nachbarschaft mit den Leuten, mit denen ich immer zusammengelebt habe. Potsdam ist dichter bei Zehlendorf. Nein. Diese Entflechtung ist tödlich, die macht eine Gesellschaft kaputt. Sogar in der Rentenversicherung werden Arbeiter und Angestellten auseinanderdividiert. So fängt das jetzt an bei uns. Ich finde das unmöglich.

Sie reden, als wären Sie Opposition.

Nee. Ich bin in der Regierung. Ich versuche im Rahmen dessen, was mir möglich ist, gegen diese Entflechtung vorzugehen. Keine schnelle Trennung in der Schule, sondern Gesamtschulen mit gymnasialer Oberstufe.

Glauben Sie, daß das zusammenwächst?

Es wird viel länger dauern, als wir dachten. Ich habe es früher nur für kommunistische Propaganda gehalten, daß Ost und West sich auseinandergelebt haben.

Die SPD als Partei des demokratischen Sozialismus — sagt Ihnen das was?

Da kriege ich immer nur einen Schreck.

Braucht die SPD eine neue Utopie?

Ja.

Welche?

Die eines Lebens in sozialer Gerechtigkeit. Und das heißt: Die grundsätzlichen Voraussetzungen für ein gerechtes Zusammenleben sind Arbeit, Wohnen, Bildung, Achtung der unterschiedlichen Gruppierungen. So, wie es jetzt ist, finde ich es unmöglich. Int.: K.W.

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