: Frage des Überlebens
■ betr.: "Zwei Armeen, zwei Regierungen" (Sudan-Friedensverhandlungen in Abjuja/Nigeria), taz vom 30.4.93
betr.: „Zwei Armeen, zwei Regierungen“ (Sudan-Friedensverhandlungen in Abjuja/Nigeria), taz vom 30.4.93
[...] „Gegenwärtig wird über die Frage der Religion verhandelt, wobei es offenbar noch kein Ergebnis gibt.“ Das klingt so, als stritte man sich um des Kaisers Bart. In Wirklichkeit geht es um die Verbindung oder Trennung von Religion und Staat, oder, anders ausgedrückt, darum, ob es im Sudan einen theokratischen Einheitsstaat oder einen säkular-pluralistischen demokratischen Staat geben soll. Dabei ist die Anwendung der Scharia als religiöse Gesetzgebung im privaten Bereich, wie sie unter den Muslimen des Sudan seit eh und je üblich war, zwischen beiden Verhandlungspartnern nicht strittig.
Kernpunkt der Auseinandersetzung ist die Scharia nicht nur im Strafrecht und Strafprozeßrecht, was allerdings ihren spektakulärsten Aspekt ausmacht mit den Amputationen, Auspeitschungen und öffentlichen Hinrichtungen mit (anschließender) Kreuzigung. Es geht vor allem um die Scharia im öffentlichen, das heißt Staats- und Verfassungsrecht, durch das im Sudan ein Apartheidsystem geschaffen worden ist mit Menschen, die vor dem Gesetz nur halb soviel gelten wie ein männlicher Muslim, nämlich insgesamt die Frauen und daneben die Christen (und Juden), und solchen, die fast völlig rechtlos sind, weil sie als außerhalb des Gesetzes stehend betrachtet werden (Khawáridj) oder der menschlichen Gemeinschaft nicht zugehörig (die Heiden, für die man bei uns den schönen Ausdruck „Animisten“ gebraucht). Dabei verfährt die sudanesische Regierung der Islamischen Front in Nachahmung von Goerings Diktum „Wer Jude ist, bestimme ich!“ nach dem Motto: „Wer zu den Khawaridj oder Heiden zu zählen ist, bestimmen wir.“ So fallen dem Völkermord in den Nubabergen, der sich unter Ausschluß der Weltöffentlichkeit vollzieht, alle Nuba zum Opfer, gleich welchen Glaubens.
Scharia als offizielle Quelle der Gesetzgebung bezieht sich zudem auf Gebiete, an die ein normaler deutscher Zeitungsleser zunächst auch nicht im entfernsteten denken würde, zum Beispiel das Bankwesen. Als Numeiri und die Muslimbrüder im September 1983 die Scharia eingeführt hatten, kam es 1984 zu einer Hungersnot. Anerkanntermaßen ging diese zum Teil auf die sogenannten Islamischen Banken zurück, die das finanzielle Rückgrat der Islamischen Front bilden und denen Numeiri Sonderprivilegien eingeräumt hatte (zum Beispiel totale Steuerfreiheit).
Im Gegensatz zum alttestamentarischen Josef in Ägypten, der als vorbildlicher und (schönster) Prophet auch im Koran einen wichtigen Platz einnimmt, hatten die Islamischen Banken das vorhandene Getreide in der Zeit der Dürre aufgekauft, um es dann zu Wucherpreisen zu verkaufen, womit sie Millionen von Menschen, besonders im Westen des Sudan, in den Hunger trieben. Das brachte ihnen im Volksmund den Beinamen „bunuk el aisch“, Getreidebanken, ein.
Die Frage der Anwendung oder Aufhebung der Scharia (tatbiq asch-Scharia) gehört deshalb im Sudan nicht zu „Fragen der Religion“, sondern ist eine Frage des Überlebens für die Mehrzahl der (Land-)Bevölkerung, ob im Süden oder im Westen, Osten oder Norden. Mit dem gegenwärtigen Regime darüber zu einer Einigung zu kommen ist jedoch fast aussichtslos, weil es sich im Juni 1989 gerade zu dem Zweck an die Macht geputscht hat, um einen militärisch abgesicherten Gottesstaat nicht nur im Sudan, sondern auch in den Nachbarstaaten total durchzusetzen und der demokratische Entwicklung im Sudan den Garaus zu machen. Peter-Anton von Arnim,
Eschborn
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