: Schnüff: Allein im armen Wolfenbüttel
■ Nach 207 Jahren fiel die „Wolfenbüttler Zeitung“ der Monopolisierung zum Opfer
„Die Wolfenbüttler Zeitung wurde zum 30. 4. 93 eingestellt.“ Auf den ersten Blick nur eine Fußnote im Wust von Zeitungs-Konkursen, -Zusammenlegungen und -Aufkäufen. Aber die Wolfenbüttler Zeitung war nicht irgendein Blatt: Sie war die älteste Zeitung Deutschlands und die erste, die regelmäßig erschien. Ihre Kopfzeile trug den schlichten Vermerk: „Gegründet 1786“. Damals regierte noch Ludwig XVI. in Frankreich. Heute ist am Kiosk offenbar kein Platz mehr für Zeitungsgeschichte.
Vor zwölf Jahren habe ich bei der Wolfenbüttler Zeitung mein erstes Praktikum absolviert. In der siebenköpfigen Redaktion unweit der alten Nikolaikirche empfing mich damals eine Mischung aus liebenswerter, altmodischer Sturheit und Gelassenheit. Die Artikel wurden hier – noch bis Mitte der achtziger Jahre – in mechanische Adler-Schreibmaschinen gehämmert. Aber der Grundsatz: „Wir drucken die Wahrheit, egal wie unbequem sie ist!“ hatte hier nichts Posenhaftes.
Schon seit geraumer Zeit führte die Wolfenbüttler Zeitung einen Kampf gegen Windmühlenflügel. Das südliche Niedersachsen ist fest in der Hand des Monopolblattes Braunschweiger Zeitung, das die FAZ inzwischen rechts überholt hat. Der Braunschweiger Verlag leistete sich sogar den ökonomisch unsinnigen Luxus, in der Lessing- Stadt einen Lokalableger mit dem Namen Wolfenbüttler Nachrichten zu produzieren. Das alles in einer Kleinstadt, die lediglich 50.000 EinwohnerInnen hat. Doch selbst diesem Druck konnte das traditionsreiche Blatt standhalten. Zusammen mit anderen Lokalzeitungen der Region wurde ein gemeinsamer überregionaler Mantel produziert, um die Kosten zu verteilen. Erst als sich dieser Zeitungsverbund 1986 auflöste, traf der Heckners Verlag als Herausgeber eine Entscheidung, die den Anfang vom Ende bedeutete. Vor die Wahl gestellt, den überregionalen Mantel von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung oder der Braunschweiger Zeitung zu übernehmen, entschied er sich aus kaum nachvollziehbaren Gründen für letztere. Seitdem bestand in Wolfenbüttel die absurde Situation, daß es zwei fast identische Zeitungen gab, die sich lediglich im Lokalteil unterschieden. Zusätzlich verschärfte sich die Lage, als der Hannoveraner Madsack-Konzern ein sonntägliches Anzeigenblatt auf den Markt brachte, das mit Dumpingpreisen systematisch den Anzeigenmarkt kaputtmachte.
Trotzdem wäre die Wolfenbüttler Zeitung vielleicht zu retten gewesen. Die engagierte Redaktion hatte ein neues, modernisiertes Anzeigen- und Vertriebskonzept vorgelegt. Mangelnde Flexibilität der Vertriebsleitung machte dies jedoch zunichte. Die Redaktion wurde von der Braunschweiger Zeitung übernommen und produziert nun deren Lokalableger als einziges Blatt in der Stadt. Die technischen MitarbeiterInnen werden zum Jahresende arbeitslos. Nach 207 Jahren ist die älteste Zeitung Deutschlands nur noch ein Fall für die Geschichtsbücher. Matthias Kittmann
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