: Keine Bewerbungen, nur die Berufung
Nach dem Rücktritt von Franz Steinkühler Spekulationen über seinen Nachfolger / Eine ähnlich charismatische Führungsfigur ist nicht im Angebot / Innergewerkschaftliche Probleme ■ Von Martin Kempe
Berlin (taz) – Noch wirkt die Industriegewerkschaft Metall wie gelähmt. Der Schock, den der jähe Sturz ihres Vorsitzenden Franz Steinkühler unter den Aktiven und Mitgliedern der Metallgewerkschaft ausgelöst hat, sitzt tief. Denn bis vor zwei Wochen war Steinkühler für viele Metaller eine Identifikationsfigur, ein charismatischer Führer mit der Fähigkeit, Phantasie und Engagement der Menschen zu beflügeln. „Irgendwie haben wir alle auch für ihn gearbeitet“, so ein hoher IGM-Funktionär, der zu den profiliertesten Köpfen der Gewerkschaft zählt und ansonsten keineswegs zu gefühligen Identifikationen neigt, zur taz.
Der plötzliche Sturz offenbart noch einmal die Ambivalenz der Ära Steinkühler. Der „Chef“ war eine Ausnahmeerscheinung. Niemand hat den sozialen Konflikt in Deutschland so klar und überzeugend artikuliert wie Steinkühler. Niemand konnte den Unternehmern so selbstbewußt und „in gleicher Augenhöhe“ entgegentreten wie er. Aber gleichzeitig war er nach innen so dominant, daß alle anderen Spitzenfunktionäre es schwer hatten, neben ihm ein eigenes Profil zu entwickeln.
Dies gilt auch für seinen unmittelbaren Nachfolger, den stellvertretenden IGM-Vorsitzenden Klaus Zwickel. Der 53jährige frühere Stuttgarter Bevollmächtigte ist gelernter Werkzeugmacher, ein bodenständiger, pragmatischer Gewerkschafter ohne visionären Ehrgeiz, ein harter Interessenvertreter ohne erkennbare ideologische Prägung. Seit 1986 ist er im geschäftsführenden Hauptvorstand der IGM für Tarifpolitik zuständig und seit 1989 Steinkühlers Stellvertreter. Zwickel wird die Gewerkschaft mindestens bis zum außerordentlichen Gewerkschaftstag im September führen. Er gehört wie die früheren IGM-Vorsitzenden Loderer, Mayr und Steinkühler zur „schwäbischen Seilschaft“, die seit Jahrzehnten die Spitzenpositionen innerhalb der IG Metall besetzt.
Noch gibt es weder offizielle noch inoffizielle Verlautbarungen über Nachfolgekandidaten. Aber schon jetzt ist vorauszusehen, daß es bei der IG Metall kein Führungschaos mit spektakulären Diadochenkämpfen ehrgeiziger Kronprinzen geben wird wie bei der SPD nach dem Rücktritt Engholms. Denn gerade mit dem spektakulären Sturz Steinkühlers ist noch einmal jenes historisch gewachsene Ethos des Dienens innerhalb der Gewerkschaftsbewegung bestätigt worden, das für die Glaubwürdigkeit gewerkschaftlicher Arbeit unverzichtbar ist. „Zum Vorsitzenden der IG Metall bewirbt man sich nicht, man wird dazu berufen“, heißt eine jener ungeschriebenen Regeln, die zwar ehrgeiziges Taktieren hinter den Kulissen nicht ausschließen, aber den offenen Machtkampf um die Spitzenposition verhindern.
Die bisherige Praxis der Führungsauslese bei der IG Metall spricht für den Interimsvorsitzenden Klaus Zwickel. Denn bisher war der Stellvertreterposten immer mit der Anwartschaft auf die Nachfolge in der Spitzenposition verbunden. Andererseits ist Zwickel – bei der voraussichtlichen Amtsdauer Steinkühlers – von den Delegierten des Gewerkschaftstags 1989 nicht unter diesem Vorzeichen zum Stellvertreter gewählt worden. So scheint es möglich, daß angesichts der außergewöhnlichen Situation nach Steinkühlers Sturz das Gesetz der Serie durchbrochen wird: erstmals könnte einer der profilierten Bezirksleiter der IG Metall direkt an die Spitze gewählt werden.
Die beiden am häufigsten Genannten, Frank Teichmüller vom Bezirk Küste und Walter Riester aus Baden-Württemberg, halten sich bedeckt. Riester hat sich in den letzten Jahren als moderner Tarifpolitiker profiliert, der die Verhandlungen über die Einführung der 35-Stunden-Woche zum Erfolg geführt und erstmals Wahlmöglichkeiten bei der Gestaltung der individuellen Arbeitszeit tariflich abgesichert hat. Teichmüller verfügt als einziger über unmittelbare Ost-West-Erfahrung in seinem von Emden bis Wolgast reichenden Bezirk.
Einen Vorsitzenden mit sozialer Leidenschaft und strategischem Denkvermögen wird die IG Metall auch in Zukunft dringend brauchen. Denn die Aufgaben, die Franz Steinkühler in Angriff genommen hat und nun nicht zuende führen kann, sind gewaltig. Die Probleme der deutschen Einheit werden der Gewerkschaft auch nach dem relativen Erfolg des ostdeutschen Arbeitskampfs schwer zu schaffen machen. Die organisationspolitische und programmatische Modernisierung der größten Einzelgewerkschaft der Welt muß gegen viele interne und externe Widerstände weitergetrieben werden. Nach wie vor ist es der IG Metall im Westen nicht gelungen, über das traditionelle, aber schrumpfende Facharbeiterghetto hinaus in die modernen Angestelltenschichten hineinzuwachsen.
Krisenbedingte Mitgliederverluste haben auch bei der Millionenorganisation IG Metall in den letzten Monaten zu erheblichen Finanzschwierigkeiten geführt. Und nicht zuletzt wird die IG Metall ihre betriebliche und gesellschaftliche Mobilisierungsfähigkeit fortentwickeln müssen, um sich gegen weitere Angriffe der Unternehmer auf das Tarifvertragssystem zu wappnen. Zwar habe die Gewerkschaft, meinte Klaus Lang, Leiter der IGM-Tarifabteilung, wenige Tage vor Steinkühlers Sturz zur taz, durch die erfolgreiche Verteidigung des Prinzips Flächentarifvertrag in Ostdeutschland auch im Westen „etwas Luft bekommen“. Aber wie lange der Burgfrieden zwischen dem Unternehmerverband Gesamtmetall und der IG Metall dauert, vermag niemand zu sagen. Klar ist nur: auf den neuen Vorsitzenden der IG Metall warten bewegte Zeiten.
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