: In drei Generationen ein Paradies geschaffen
Serie: Umland-Utopien (zweite Folge): Seit 65 Jahren wird auf Hof Marienhöhe biologisch-dynamische Landwirtschaft betrieben / Aus einer unfruchtbaren Steppe haben die Bewohner ein blühendes Land gemacht ■ Von Gerd Nowakowski
Wenn um zwölf Uhr vom Haupthaus die Glocke über das weite Land schallt, dann streben Menschen aus allen Richtungen zum Essenraum im alten Gutshaus. Sie kommen aus dem Gemüsegarten, aus dem Kuhstall, der Werkstatt und vom Acker. Hinter ihnen legt sich die Stille noch tiefer über eine Idylle, der man nicht ansieht, daß sie über drei Generationen hart erarbeitet werden mußte.
Nur der Fremde wird vor der Tür auf der Bank unter einem schattigen Baum allein zurückgelassen; noch einmal bedacht mit einem abschätzenden Blick über die Schulter – nicht feindselig oder mißtrauisch, aber sehr distanziert. Beim Essen bleiben die Bewohner der Marienhöhe unter sich, so wie sie am liebsten immer unter sich bleiben würden, auf ihrer Insel. Dieser Wunsch, in Frieden gelassen zu werden, der teilt sich dem Besuch nahezu sofort mit: Ständig wird einem das Gefühl vermittelt, ein Eindringling zu sein. Die spröde Abgrenzung läßt aber zugleich erahnen, daß aus dieser engen Gemeinschaft auch die Kraft und die Entschlossenheit kommt, über so viele Jahre gegen alle Widerstände an diesem Lebensentwurf festzuhalten.
Ob der Hof Marienhöhe bei Bad Saarow eine Insel der Glückseligen ist, können nur die Bewohner entscheiden. Auf jeden Fall aber haben sie nicht weit entfernt vom betriebsamen Ufer des Scharmützelsees auf 100 Hektar ein blühendes Paradies geschaffen. Vor 65 Jahren, als die ersten Bewohner mit der Landwirtschaft begannen, sah es hier noch gänzlich anders aus. Eine sandige, unfruchtbare Steppe bot sich damals dem Blick dar. Der Boden war für Landwirtschaft zu trocken und denkbar ungeeignet. Doch das Land war billig. Beim Kauf spielte auch die Herausforderung eine Rolle: Man wollte beweisen, daß die biologisch-dynamische Anbauweise Erträge auch unter ungünstigsten Bedingungen hervorbringt.
Heute, drei Generationen später, ist dies für die Bewohner des ältesten Demeter-Hofes Deutschlands keine Frage mehr: Der Erfolg spricht für sich. Der Blick schweift über frischgrüne Felder mit Roggen, über den riesigen Garten mit vielerlei Gemüse, duftenden Kräutern, Früchten und Beeren. Abseits im Gelände gibt es einige Bienenstöcke. Im Gehege neben dem Kornspeicher wühlen Jungschweine mit der Nase im Boden. Eine junge Frau treibt die Kuhherde von der Wiese in den Stall zum Melken. An den Rändern der Sandwege recken sich Blumen. Unter einem Baum klettern die vier kleinen Kinder des Hofes auf großen Steinen umher.
Fast dreißig Menschen wohnen heute auf Marienhöhe. Jeder hat ein eigenes Zimmer; die einzeln Lebenden zumeist im zweihundert Jahre alten Gutshaus. Die Familien sind in einem neueren Haus untergebracht. Man führt ein einfaches Leben. Nur ein, zwei Bewohner haben einen Fernseher. Das sei keine ideologische Sache, wird beteuert. „Keine Zeit zum Schauen“, wird als Grund angegeben. Man widme sich lieber schöpferischen Dingen.
Deutlich spürbar ist die Lücke zwischen den Generationen. Die Alten sind vielfach bereits über siebzig Jahre alt und die jüngere Generation um die dreißig. Die Zwischengeneration fehlt fast völlig.
In dieser nicht gleichmäßig gewachsenen Alterspyramide spiegeln sich die DDR-Jahre, die dem Projekt hart zusetzten. Marienhöhe war dem Staat suspekt und wurde mißtrauisch beäugt. Schließlich kollidierte der nichtstofflich-orientierte antroposophische Ansatz mit dem dialektischen Materialismus. Das Ansehen des Hofgründers als Nazi-Verfolgter und die Größe des Hofes – sie lag knapp unter der Grenze – verhinderte nach dem Krieg eine Enteignung. Auch der Zwangskollektivierung entging Marienhöhe und blieb der einzige DDR-Hof mit biologisch-dynamischer Anbauweise.
Doch die DDR zwang die Gemeinschaft zu einer mengenmäßigen Pflichtabgabe, die zwar mit der düngerunterstützten Großproduktion, nicht aber mit einem biologisch-dynamischen Landanbau zu erreichen war. Nur der entschlossene Widerstand der Menschen, die unter miserabelsten Bedingungen weitermachten, habe die Versuche vereitelt, den Hof zur Selbstaufgabe zu zwingen, erzählen die Veteranen. Dennoch fanden gerade in den letzten DDR-Jahren jüngere Menschen nach Marienhöhe und frischten die Altersstruktur auf.
Die erzwungene Mengenproduktion in dieser Zeit hat Spuren hinterlassen, auch wenn Marienhöhe seit 1969 keine Pflichtabgaben mehr leisten mußte. Der mühsam verbesserte Boden habe teilweise wieder abgebaut, gibt der vierundsechzigjährige Günter Pohl zu. Der große, hagere Mann mit den vollen Haaren ist Geschäftsführer. „Es gibt hier keinen Chef, es gibt nur Chefs“, erklärt er in seinem kleinem Büro das Grundprinzip der Gemeinschaft der Gleichen. Während die Alternativbetriebe der achtziger Jahre längst wieder zu Hierarchien gefunden haben, funktioniert auf Marienhöhe die Basisdemokratie noch. Jeden Morgen treffen sich die Menschen und sagen, welche Arbeiten sie geplant haben. Jeder auf dem Hof arbeitet nach seinem Vermögen; auch die alten tun freiwillig mit, soviel sie wollen und können. Wöchentlich gibt es ein Plenum für die über den Tag hinausgehenden Entscheidungen.
Glaubt man Geschäftsführer Pohl, der mit seiner kargen Art im hohen Maße das Abschottungsinteresse des Hofes repräsentiert, dann hat die Wende Marienhöhe nur wenig berührt. Nach der Wende wurde Marienhöhe zur wichtigsten Adresse für DDR- Landwirte, die ihre Produktion auf biologisch-dynamischen Landbau umstellen wollte. Unter dem Ansturm sah man sich genötigt, einmal im Monat Betriebsführungen anzubieten. Reagiert hat man aber auf die veränderten Vermarktungsmöglichkeiten, verkauft statt der Rohprodukte zunehmend verarbeitete Erzeugnisse. Man hat eine eigene Demeter-Milchverarbeitung aufgebaut, die ausgezeichneten Käse produziert. Auf dem Hof wurde ein Laden mit eigenen Produkten eröffnet und zudem Verkaufsbeziehungen nach Berlin geknüpft. Doch ansonsten sei Marienhöhe eine „Insel“ geblieben, wo man den „Stärken und Schwächen der anderen ausgeliefert ist und viel guten Mut und Toleranz“ haben müsse, um in der Gemeinschaft leben zu können, wie es Pohl nüchtern ausdrückt. Daß der Hof wenig Interesse an neuen Mitgliedern habe, weist er zurück. Man sei immer offen für neue Leute, habe aber wenig Platz zur Unterbringung, sagt er erklärend. Dringend sucht man derzeit eine Köchin.
Es braucht freilich auch viel Idealismus, um dort zu bestehen. „Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, sondern gesundheitsorientiert für die Natur und die Menschen“, komprimiert Günter Pohl das Credo des Hofes in einem Satz. Unverändert orientiert sich der Hof an der antroposophischen Lehre von Rudolf Steiner. Beim Anbau und bei der Kompostierung arbeiten die Marienhöher wie die Homöopathen mit extrem verdünnten Lösungen. Zerriebener Quarz zum Beispiel in feinster Verteilung in Wasser aufgelöst, „wirkt Wunder“, sagt Pohl: Damit werde die Blattentfaltung verstärkt.
Trotz der sichtbaren Erfolge aber sind die Erträge gering. Die Marienhöher führen ein äußerst einfaches und bescheidenes Leben: Zwar sind die Menschen sozial- und rentenversichert, doch mehr als ein Taschengeld von wenigen hundert Mark kann der Hof nicht auszahlen. Christoph Reishaus ist einer der beiden Westdeutschen, die nach der Wende hinzugekommen sind. Ansonsten kommen alle Menschen aus Ostdeutschland. Der zweiundvierzigjährige Reishaus arbeitete vorher bereits in Berlin im Naturkosthandel, nun organisiert er den Hofladen und den Vertrieb der Produkte. Mit dem wenigen Geld komme er klar, sagt er – nur gelegentlich überkomme ihn noch die Lust auf Stadt.
Natürlich gebe es Gespräche über Öfffentlichkeit versus Abgrenzung, insbesondere bei den Jüngeren, erzählt Christoph. Keiner aber fordere, durch mehr Hinwendung an die Außenwelt den wirtschaftlichen Ertrag zu steigern. Allen sei klar, daß der Hof nur erhalten bleiben kann, wenn die Ruhe bleibt: „Wir wollen nicht anfangen, unser Lebensgefühl zu vermarkten.“
„Manche könnten draußen gar nicht mehr leben“, sagt Christoph, der mit seinen Sandalen und der Latzhose dem Alternativ-Klischee entspricht. „Die Gemeinschaft ist für sie etwas Stützendes“ und böte Freiraum wie auch Behütung.
Die Pferde schauen aus ihren Boxen zur Bank unter der ausladenden Buche herüber. Die vierjährige Anna spielt zu unseren Füßen, und die 79jährige Eva-Maria Bartsch, die seit 1940 hier lebt, geht mit ihren zwei Stöcken über den Hof. Aus der Werkstatt ist Hans- Günther zu hören, der auf ein Blech einschlägt. Und jedesmal, wenn er seine Arbeit kurz unterbricht, wird es so still, als halte die Natur den Atem an.
Hofführungen gibt es jeden letzten Samstag im Monat um 14.30 Uhr. Anschrift: Hof Marienhöhe, Marienhöhe 3, 0-1242 Bad Saarow
Die nächste Folge der Serie erscheint in einer Woche.
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