: Moskauer Sprachalltag
Zwei Wochen bei einer russischen Familie aus der Distanz eines zahlungskräftigen Gastes ■ Von Elisabeth Kapell
Die Moskauer Adresse war das einzige, was ich von meiner russischen Gastfamilie wußte. Prospect Wernadskawo – laut Stadtplan eine der großen Straßen, die an der Universität vorbei schnurstracks auf die Moskwa und das Stadtzentrum zuführen. Hoffentlich liegt die Wohnung nicht direkt an der Straße? Hoffentlich hat man den Großvater der Familie nicht im Keller untergebracht, um für mich Platz zu schaffen. Und überhaupt, welche Menschen würden mich erwarten? Solche Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich in der Maschine der Aeroflot mit dem Ziel Moskau saß. Das großblumige Dekor des Teppichbodens, der sich an den Wänden des Flugzeuginnenraumes wiederfand, und der ungewohnte Klang der russischen Sprache meiner mit vielen Plastiktüten und Kartons bepackten Mitreisenden machten mir klar, daß ich auf dem Weg in eine andere Welt war. Ich beschloß, mich mit Sprachübungen von meinen „schlechten“ Gedanken abzulenken. Ich wollte wenigstens die ersten zehn Minuten meiner Ankunft in der neuen Familie sprachlich bewältigen können. Für eine Anfängerin mit Grundkenntnissen, erworben an der Volkshochschule, würde das nicht einfach werden.
Eine vierzehntägige Sprachreise nach Rußland hatte ich gebucht. Neben dem vierstündigen täglichen Sprachunterricht an der Moskauer Lomonossow-Universität soll durch die private Unterbringung die Möglichkeit geboten werden, Sprachpraxis auch im Alltagskontakt zu erwerben. Diese Alternative zum Hotel ist nicht nur aus finanziellen Gründen attraktiv, sie ist auch die Gelegenheit zum persönlichen Kontakt und das Kennenlernen des russischen Alltags, wenn auch mit der Distanz eines zahlungskräftigen Gastes.
„Dobry Dien“ – Sergei, Isabella und die zehnjährige Julia begrüßten mich an der Wohnungstür. Auch sie schienen gespannt, wer mit ihnen für zwei Wochen die Zweizimmerwohnung teilen sollte. Der Großvater war zwar nicht in den Keller verbannt, dafür teilten sich Eltern und Kind das Wohnzimmer. Mir hatte man das elterliche Schlafzimmer mit dem riesigen Doppelbett zugedacht, während Eltern und Kind auf je einer Bettcouch schliefen. Meine privilegierte Stellung machte mich verlegen und unsicher. Isabellas Miene und meine sprachlichen Defizite ließen allerdings keinen Widerspruch zu. Nachdem sich die Gastgeberin versichert hatte, daß mein neues Zimmer mir zusagte, gab es in der Küche erste Kostproben russischen Essens. Der elektrische Samowar war in Betrieb gesetzt, ein Zeichen eines nicht alltäglichen Ereignisses, das sich in den nächsten Wochen nur noch an Bellas Geburtstag und bei meinem Abschied wiederholte. Außerdem war der Fernseher, der auf dem Kühlschrank der 12-Quadratmeter-Küche noch Platz gefunden hatte, abgeschaltet. Auch dies war, wie sich in den nächsten beiden Wochen herausstellen sollte, eher ungewöhnlich. Ich beantwortete erste Fragen nach meiner Herkunft und meinem Beruf. Mein zurechtgelegtes Vokabular war schnell erschöpft, und so blieb die Neugier auf beiden Seiten erst einmal unbefriedigt. Das Wälzen der Wörterbücher schluckte an diesem Abend die meiste Zeit und ließ mir kurze Pausen der Erholung. Skepsis darüber, wie das wohl werden wird, stand meinen Gesprächspartnern im Gesicht geschrieben. „Sie versteht sehr schlecht“, war Isabellas Resultat, das sie ihrem Mann mitteilte. Mit vermeintlich pädagogischem Geschick und viel Ausdauer wiederholte sie einzelne Wörter immer wieder; sie sprach dabei sehr laut und betont langsam.
Am nächsten Morgen brachte Isabella mich in das Büro des Reiseveranstalters. Ich fühlte mich wie ein Erstkläßler, der an seinem ersten Schultag zur Schule begleitet wird, und lauschte ihren Erläuterungen über die Metro- und Straßenbahnhaltestellen. Im Büro hatten sich alle Neuankömmlinge eingefunden, um in Ablauf und Programm der Reise eingeführt zu werden. Eine russische Sprachdozentin prüfte im Dialog das jeweilige Niveau der Sprachkenntnisse. Ich belegte mit zwei anderen Teilnehmern den Kurs für Anfänger.
„Dieses Land ist so kalt, ich träume immer davon, in einem Land zu leben, wo es warm ist und alles funktioniert.“ Heute war es die nicht funktionierende Heizung in den Seminarräumen der Universität, über die sich Alexandra, unsere Russisch-Dozentin, beschwerte. Mal war es die Straßenbahn, die verspätet oder überfüllt ankam, mal waren es die Handwerker oder der schlechte Zustand ihrer Moskauer Wohnung – Alexandras Unterricht begann in der Regel mt einem Lamento. Mir gefiel ihr Bedürfnis, sich zunächst einmal Luft zu verschaffen. In den laut vorgetragenen Klagen schwang fast schon sentimentales Bekenntnis der Verbundenheit mit der Stadt mit. „Diese Stadt ist gräßlich, viele meiner Bekannten sind in Amerika, aber ich will trotzdem nicht weg.“ Mit diesem Satz überraschte und erleichterte sie ihre Zuhörer zugleich.
Der Unterricht verlief in den beiden ersten Tagen etwas unstrukturiert, da sich trotz kleiner Gruppe und ähnlichem Sprachniveau im Detail große Differenzen in Wortschatz und Grammatikkenntnissen zeigten. Alexandra mußte sich auf die unterschiedlichen Stärken und Schwächen ihrer Schüler einstellen, was zugegebenermaßen nicht immer einfach war. Ein Autodidakt, dem jede Sprachpraxis fehlte, und zwei Schülerinnen mit Volkshochschulniveau – dies war die Zusammensetzung der Gruppe. Alle drei hatten das Minimalprogramm von zwei Wochen gebucht, was der Dozentin enge Grenzen bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Unterrichts setzte. Und so konnte es in der kurzen Zeit nur darum gehen, den Kontakt mit dem russischen Alltag sprachlich zu unterstützen. Alexandra stellte sich auf unsere Wünsche ein, übte Dialoge mit uns und beantwortete die vielen Fragen, die täglich durch die Gespräche beim Einkauf, auf der Straße oder in der Familie entstanden. Sie hatte sich darüber hinaus, orientiert an unserem Vorwissen, ein Grammatikprogramm zurechtgelegt.
In meiner neuen Familie wurde meine sprachliche Entwicklung mit großem Interesse verfolgt und entsprechend positiv oder negativ kommentiert. „Du verstehst schon sehr viel und redest gut“, sagten Isabella und Sergei, wenn wir abends in der Küche am Tisch saßen und ich stolz und mit viel Enthusiasmus mein neues Vokabular ausprobieren konnte. Beim gemeinsamen Frühstück korrigierte Isabella in der Regel die Rechtschreibfehler in meinem Schreibheft. Sergei saß daneben, fragte Vokabeln ab, freute sich über meine sprachlichen Fortschritte, aber reagierte ebenso kritisch, wenn er auf eine Wissenslücke gestoßen war. „Schto eta?“ Sergei zeigte auf Gegenstände in der Küche, die ich dann in russisch und anschließend in deutsch benennen mußte. Doch nicht nur über Alltägliches tauschten wir uns aus. Nachdem ich mich sprachlich etwas sicherer fühlte, wagte ich mich auch an gesellschaftliche Themen. So verhackstückten wir am Küchentisch mit viel Improvisationskunst und unter Zuhilfenahme von Wörterbüchern das Privatisierungsprogramm der russischen Regierung, die Lage auf dem Arbeitsmarkt, die Zukunft der Druckerei, in der Sergei als Arbeiter angestellt war. „Das ist alles Betrug. Wenn ich das bekomme, werfe ich es gleich in den Mülleimer“, kommentierte Sergei meine Frage nach der Privatisierung per Volksaktie. „10.000 Rubel, das ist ein Witz bei der jetzigen Inflation.“
„Was kostet das in Deutschland?“ Isabella zeigte mir den neuen Radiokassettenrecorder, den sie gegen harte Währung im Devisenladen erstanden hatte. Damit waren wir wieder bei einem Lieblingsthema meiner beiden Gesprächspartner, dem Vergleich von Preisen. Beide wurden dabei furchtbar ernst und warteten gespannt auf meine Antwort. Als Abgesandte einer Konsumgesellschaft schenkten sie mir in diesem Punkt ihr vollstes Vertrauen. „50 Mark“, sagte ich, und Isabella reagierte sauer, als ich ihr meine Vermutung über die schlechte Qualität des Gekauften äußerte. Sie hatte 100 Mark gezahlt, ein in meinen Augen zu hoher Preis für ein plärrendes, schepperndes Etwas, das die Radiokanäle nur mit Mühe halten konnte. Doch für meine russische Gastfamilie waren Sachwerte neben den Devisen eine wichtige Form der Geldanlage in dieser hyperinflationären Zeit.
Sergei verbrachte die meiste Zeit mit Telefonieren und Rauchen. Er hatte Urlaub. Dabei saß er im Unterhemd in der kleinen Küche, der Fernseher lief, und das Fenster stand offen, da sich die Heizung der Wohnung nicht mehr regulieren ließ. „Wo gibt es das? Wie teuer?“ Sergei schrie ins Telefon. Der Straßenlärm der mehrspurigen Straße und das Fernsehen ließen eine andere Lautstärke nicht zu. Anschließend besprach er sich mit seiner Frau. Wieder ernste Mienen, kurze Hektik, Sergei stand nun in Hemd und Jacke gekleidet, war auf dem Sprung, die Wohnung zu verlassen. Abends saß er voller Stolz in der Küche und präsentierte mir die neuesten Errungenschaften. Diesmal waren es zwei Silberkruzifixe, die er für sich und seine Frau besorgt hatte. Die obligatorische Frage „Was kostet das in Deutschland?“ konnte ich diesmal nicht beantworten.
„Zieh dich warm an.“ „Iß bitte nicht in der Mensa.“ Jedesmal wenn ich die Wohnung verließ, standen Sergei und Bella an der Tür und verabschiedeten mich. Mein Aufenthalt in der Familie war schon nach drei Tagen zur Selbstverständlichkeit geworden. „Welchen Bahnhof hast du dir heute angesehen?“ fragte Sergei, wenn ich abends erschöpft am gedeckten Tisch Platz nahm. Ich mußte erzählen. Er konnte zwar nicht nachvollziehen, wie man sich an der Atmosphäre eines Moskauer Bahnhofs berauschen konnte, doch neugierig hörte er zu. Ich gehörte mittlerweile dazu, wurde den Nachbarn vorgestellt, wurde in die Geburtstagsfeierlichkeiten und mehr und mehr auch in die alltäglichen Stimmungen und Krisen einer Kleinfamilie einbezogen. Julia trödelte bei ihren Hausaufgaben, Sergei hatte einen Tag seines Urlaubs der Wodkaflasche gewidmet, Bella hatte sentimentale Gefühlsausbrüche, wenn aus dem Radio ein Liebeslied erklang. Das Gefühl, aufgehoben zu sein und Ansprache zu finden, entschädigte für die räumliche Enge, den Lärm der Straße und des alten Kühlschranks, der, vollgestopft mit Glaskonserven, in einer Ecke meines Schlafzimmers stand. Den Dingen des Alltags und der Sprache des Alltags kam ich jedenfalls ein Stück näher.
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