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Lettlands alt-neue Symbole

„Offiziellen Antisemitismus gibt es nicht“ / Probleme mit der Vergangenheitsbewältigung / Juden wandern aus  ■ Aus Riga Matthias Lütkens

In der lettischen Hauptstadt Riga scheinen die Gespenster der Vergangenheit wieder aufzuerstehen. Vor dem Freiheitsdenkmal in der Innenstadt wacht seit einigen Monaten wieder eine Ehrengarde, das Symbol der Unabhängigkeit der Baltenrepublik. Die beiden jungen Soldaten, die dort stehen, tragen die lettische Vorkriegsuniform mit Stahlhelm, die der deutschen Wehrmachtsuniform sehr ähnelt. Das veranlasste sogar die englischsprachige Rigaer Zeitung The Baltic Observer zu einem Titelfoto mit der Unterschrift: „Dies ist kein Nazi“, denn, so Chefredakteur Karlis Freibergs: „Den Touristen wird das bestimmt komisch vorkommen“.

Auch wenn es den Überlebenden und Nachkommen des Holocaustes schon sehr seltsam anmutet: Nach 50 Jahren sowjetischer Unterdrückung knüpft Lettland wieder an die Vorkriegsgeschichte an und gräbt die Symbole der Vergangenheit aus. So haben sich zwei Verbände der gefürchteten Aisszargi, die paramilitärischen Stoßtruppen des autoritären Präsidenten Karlis Ulmanis, der 1934 in einem Staatsstreich das Parlament außer Kraft setzte, wieder formiert. Überlebende des Holocaust erinnern sich schmerzlich daran, daß gerade die Aisszargi den deutschen Besatzern geholfen haben, lettische Juden ausfindig zu machen. Auf dem Lande werden nun in einigen Orten die Denkmäler für die lettischen Soldaten der SS wiederhergerichtet, die unter sowjetischer Herrschaft zerstört worden waren.

Rund 200.000 Juden aus ganz Europa sind in dem Konzentrationslager Salaspils bei Riga umgekommen. Alle Bewohner des Rigaer Ghetto wurden von den Nazis mit lettischer Unterstützung umgebracht. Ein kritischer Artikel in dem US-amerikanischen Magazin Life mit dem Titel „Bald holen sie auch uns“ erregte in Lettland auch innerhalb der jüdischen Gemeinde Empörung. „Es gibt keinen offiziellen Antisemitismus“, meint der jüdische Abgeordnete Mavreks Vulfssons. Gleichzeitig weist er jedoch darauf hin, daß Lettland seine Verantwortung für die Beteiligung an der Judenvernichtung noch nicht voll übernommen habe.

Im Rigaer Kriegsmuseum im alten Pulverturm steht heute an der Wand eine Warnung, daß das heidnische Feuerkreuz mit der nationalsozialistischen Ideologie nichts zu tun habe. Wenn es eine lettische Luftwaffe gäbe, würden auch heute wieder Hakenkreuze ihren Rumpf zieren.

Während des Zweiten Weltkrieges wurde die deutsche Wehrmacht von den Letten als Befreier von der Sowjetmacht begrüßt und die Judenverfolgung tatkräftig unterstützt. Dennoch fühlen sich heute viele zu Unrecht als Antisemiten und Faschisten hingestellt. „Lettland kann nicht verantwortlich gemacht werden“, zieht sich der rechtsradikale Politiker Visvaldis Brinkmanis aus der Affaire, „denn wir waren ein okkupiertes Land“.

Die Bedeutung der Nazisymbolik wird von den meisten Letten heruntergespielt und gegen die stalinistischen Verbrechen aufgewogen. „In Lettland wiegt die sowjetische Okkupation schwerer als die vier Jahre Naziherrschaft“, meint Karlis Freibergs. Außerdem ist die Behauptung weit verbreitet, vor allem Juden seien für die massive Deportation von Letten im Jahre 1940 verantwortlich gewesen. Parlamentspräsident Anatolijs Valerianowitsch Gorbunovs sprach ausgerechnet in einer Rede am 24. November 1991 aus Anlaß des 50. Gedenktages der Judenverfolgung gar von der Schuld des jüdischen Volkes. „Von offizieller Seite hat es bis jetzt keine Vergangenheitsbewältigung gegeben“, klagt Mavreks Vulfssons.

Der oberste Rat, das Parlament, das am kommenden Wochenende neu gewählt wird, hat sich zwar 1990 für die Mithilfe einiger Letten am Holocaust entschuldigt, doch gründlich haben die Letten ihre Vergangenheit nicht aufgearbeitet. Kürzlich würdigte das Parlament sogar die lettischen Soldaten, die auf deutscher Seite gekämpft hatten. „Stellen Sie sich vor, der Bundestag stünde auf, um die deutschen Wehrmachtssoldaten zu ehren“, sagt Mavreks Vulfssons.

In sonntäglichen Diskussionen älterer Letten vor dem Freiheitsdenkmal hört man immer wieder antisemitische Äußerungen. Von offizieller Seite heißt es, dies seien nur vereinzelte Personen. Außerdem verfüge Lettland als erste ehemalige Sowjetrepublik über einen jüdischen Kindergarten und eine jüdische Schule. Doch die ehemals florierende jüdische Gemeinde ist heute auf 15.000 Mitglieder geschrumpft. Die meisten von ihnen haben keine lettische Staatsangehörigkeit, weil sie unter der sowjetischen Okkupation aus Rußland eingewandert sind.

In den letzten Jahren haben viele Juden Lettland den Rücken gekehrt. Auch der jüdische Filmemacher Herz Frank, ein Gründer der Rigaer Dokumentarfilmschule, verläßt in diesen Tagen für immer das Land. „Meine Abreise hat nichts mit der politischen Situation zu tun“, erklärt der 67jährige Mann, dessen gesamte Familie bereits in Israel lebt. Doch seine Freunde meinen, er sei „enttäuscht“ über die geringe Unterstützung, die er von lettischer Seite für seine Arbeit bekommen hat. So wurde sein letzter Film, die „Judengasse“, ein Film über das Ghetto in Riga, nur einigen ausgewählten Kinogängern gezeigt und ist bis jetzt nicht im lettischen Fernsehen gelaufen.

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