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Der ganz andere Bildungsgipfel

StudentInnen setzen den Regierungsvorstellungen von Bildungsreform die Vision einer demokratischen Universität entgegen  ■ Aus Bonn Christian Füller

Die Technische Universität Berlin lud letztes Semester 120 StudentInnen erstmalig in den Ferien zum Mathe-Seminar ein – damit sie ihre ProfessorInnen kennenlernen können. „Manche sehen ihren Professor zum ersten Mal bei der Prüfung unter vier Augen“, begründete die Hochschuldidaktikerin Christine Keitel-Kreidt die ungewöhnliche Seminarwoche. „Das Band zwischen Lehrenden und Lernenden“ sei im normalen Uni-Betrieb längst gerissen. Was nach einer Berliner Didaktik-Orchidee aussieht, ist an deutschen Unis inzwischen der Normalfall. Seit Ende der siebziger Jahre ist die Zahl der Studierenden um 75 Prozent angewachsen, die der Professoren um ganze 6 Prozent. Bei den Räumen sieht es ähnlich aus: auf 900.000 Studienplätzen versuchen sich 1,8 Millionen Studierende durch Wissenschaft zu bilden. Die deutsche Universität – ein dankbares Objekt der Chaosforschung, an der sich nun auch die Studierenden selbst beteiligen.

Auf einem studentischen Bildungsgipfel, der ab heute (bis Sonntag) in Bonn stattfindet, wollen Studierende „eigene Vorstellungen erarbeiten“. Die Konferenz ist ein Reflex auf den von Helmut Kohl vorgeschlagenen Bildungsgipfel. Der Kanzler ist besorgt, daß lange Studienzeiten den „Standort Deutschland“ gefährdeten. Auch die Kultusministerien der Länder und die Wissenschaftsorganisationen schlagen vor, die vielen Studierenden schneller an den viel zu wenigen Lehrenden vorbeizuschleusen. Lösungsvorschläge dafür stehen in einem „Eckwertepapier“ von Bund und Ländern, dessen neueste Fassung am Wochenende bekannt wurde. Danach steht eine „radikale Reform“ des Studiums an. Es soll an den Unis in einen berufsqualifizierenden Teil und die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses gegliedert sein. Regelstudienzeiten sollen gesetzlich verordnet, bis zum Jahr 2000 die Fachhochschulen um 102.000 Studienplätze aufgestockt werden. Dafür wären aber die Mittel für den Hochschulbau erheblich zu steigern.

„Unser studentischer Bildungsgipfel ist die einzige Chance, mitzureden und ernstgenommen zu werden“, sagt Nathalie Güttes vom Asta der Uni Bonn. Die Studierenden setzen ihren gegen den immer wieder verschobenen Bildungsgipfel der Politiker, der für September geplant ist. Die Studis wollen eine ganz andere Reform. Die Krise der Hochschulen sehen sie in fehlender Demokratie an den Unis, einer marktorientierten Ausrichtung von Forschung und Lehre sowie in der fortschreitenden Verschulung des Studiums. Die von Bund und Ländern angepeilte Zweiteilung des Studiums kritisieren die Studierenden als „Entwissenschaftlichung des Studiums“. Damit stehen sie nicht alleine. Die Unis sollten nicht „mehr oder weniger hübsch verpackte Wissensware“ verkaufen, forderte jüngst der Literaturwissenschaftler Eberhard Lämmert von der Berliner Initiative „Sturm für die Uni“. Die Frage nach dem „Warum des Wissens“ müsse „mindestens als Herausforderung“ in jeder Lehrveranstaltung enthalten sein. Inhaltlich sollten sich die Hochschulen, so fordern es die Studierenden in einem Resolutionsentwurf, „an den Überlebensfragen der Menschheit statt an der bloßen ökonomischen Verwertbarkeit orientieren“. Die Ausbildung konkreter Berufsfertigkeiten lehnen sie ab – wie übrigens die Wirtschaft auch. Sie erwartet von den Unis die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen wie soziale Kompetenz und disziplinübergreifende Teamarbeit.

Solche Qualifikationen trainieren die Hochschulen „eher zufällig“, wie etwa der Ausbildungschef von IBM-Deutschland beklagt. Seit den siebziger Jahren zu großfömigen Massenbetrieben angewachsen, ist dort mehr und mehr Orientierung für die neuen Studis gefragt, ehe das Maß an wissenschaftlicher und beruflicher Ausbildung in Frage steht. Nach dem Studium ist die Beratung des Absolventen in einem hochdifferenzierten Akademiker-Arbeitsmarkt vonnöten, der nach Expertenprognosen bis zum Jahr 2010 auf einen Anteil von über 20 Prozent der Beschäftigten ansteigen wird. Beratungs- und Orientierungsleistungen werden aber von den Studierenden bislang oft in Eigenregie erbracht – oder zumindest initiiert. Etwa an der sich gerade reformierenden TU Berlin, wo Studierende die Einrichtung beratender Studienbüros den Professoren geradezu abtrotzen mußten.

Beim Numerus Clausus halten es die Studierenden mit Willy Brandt. Der lehnte in seiner Regierungserklärung von 1970 ab, das Bürgerrecht auf Bildung durch Besitz oder irgend etwas sonst einzuschränken. Statt dessen fordern die StudentInnen in ihrem Resolutionsentwurf, die Hochschulen adäquat auszustatten und die StudentInnen sozial abzusichern. Der Staat müsse nachholen, was er beinahe zwanzig Jahre lang versäumt habe und seinen Bildungsetat wieder auf den Stand von 1975 bringen. Die Differenz betrüge, in knappen deutschen Mark: etwa 9Milliarden. Als „realitätsfern“ hat das Bundesbildungsministerium jüngst aber bereits zusätzliche Bundesmittel von 700 Millionen Mark im Hochschulbau bezeichnet. Der Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Gerhard Neuweiler, hatte das Geld gefordert. Bis ins Jahr 2020 ziehe sich sonst der Ausbau der Fachhochschulen hin – immerhin eines der beiden Kernstücke der geplanten Hochschulreform. Wer letztlich in die finanzielle Zwickmühle geraten könnte, steht im Eckwertepapier von Bund und Ländern: „Umwidmungen von Gebäuden, Stellen und Mitteln aus dem Universitätsbereich in die Fachhochschulen sind im Zuge dieses weiteren Ausbaus (der Fachhochschulen, d. Red.) in Betracht zu ziehen.“

Im Resolutionsentwurf der Studierenden stehen dagegen 9 Milliarden. Er wird morgen in der Pädagogischen Fakultät der Uni Bonn open-end diskutiert – notfalls bis zum Frühstück um 8, wie die Einladung verrät.

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