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Offener Brief

■ An die 134 Abgeordneten, die am 26.5.1993 im Bundestag gegen die Änderung des Grundgesetzartikels 16 und Verschärfung der Asylgesetzgebung gestimmt haben

An die 134 Abgeordneten, die am 26. 5. 1993 im Bundestag gegen die Änderung des Grundgesetzartikels 16 und Verschärfung der Asylgesetzgebung gestimmt haben:

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete im Deutschen Bundestag,

in diesem Schreiben möchten wir unsere Betroffenheit über die jüngsten Beschlüsse des Bundestages zur Verstümmelung des Asylrechts Ausdruck verleihen. Mit Sorge sehen wir die sich zunehmend über die Grenzen aller Parteien hinweg ausbreitende Gemeinsamkeit fremdenfeindlicher Politik. Diese manifestiert sich nicht zuletzt in fragwürdigen Gesetzesbeschlüssen, wie dem songenannten „Asylkompromiß“. Dieser Asylkompromiß ist fatal in seinen Konsequenzen für die betroffenen, sich innerhalb und außerhalb Europas auf der Flucht befindlichen Menschen.

Wir sind Bürgerinnen und Bürger, die sich vornehmlich mit den in verschiedenen Unterkünften Norderstedts untergebrachten Flüchtlingen beschäftigen. Dabei engagieren wir uns für die Schaffung von persönlichen Kontakten und Freundschaften zwischen der einheimischen Bevölkerung und unseren neuen Nachbarn aus „aller Herren Länder“. Weiterhin bemühen wir uns - gegen eine nur zu oft Ängste und Verunsicherungen schürende Medienberichterstattung - um eine vertrauen- und verstandnisschaffende Öffentlichkeitsarbeit in den Stadtteilen.

Die neue Gesetzgebung stellt de-facto die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl dar. Sie gibt kaum noch einem Flüchtling Gelegenheit, seinen Asylanspruch auf deutschem Boden geltend zu machen. Die Folgen sind zunehmende Verdrängen von Flüchtlingen an den Rand der Gesellschaft. Die Illegalität gerät zur letzten Rettung vor der drohenden Abschiebung in die von Bürgerkrieg, politischer Repression und Hunger geplagten Herkunftsländer. Der Asylkompromiß bedeutet außerdem einen Rückschlag für unsere Bemühungen um ein positives gesellschaftliches Miteinandern. Fühlen sich doch nun alle möglichen fremdenfeindlichen Interessengruppen durch die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse zusätzlich bestärkt. Die Gewalt, die auch solcher Politik erwächst, hat sich am vergangenen Wochenende in Solingen, München und Syke erneut und mit tragischer, menschenverachtender Konsequenz Bahn gebrochen.

Um so mehr erscheint es uns wichtig, Sie in Ihrer wider den Zeitgeist gewendeten politischen Position zum Asylrecht zu bestärken. Wir möchten Ihnen auf diesem Wege sagen, daß „Volkes Stimme“ sich mitnichten ausschließlich in nationalistischen und völkischen Banalitäten Ausdruck verleiht. Wir und unsere ausländischen MitbürgerInnen bauchen Sie und Ihr politisches Stehvermögen. Wir fordern Sie auf, allen populistischen Mehrheiten zum Trotz, im wiedervereinigten Deutschland gemeinsam mit uns weiterhin die legitimen Interessen kultureller und nationaler Minderheiten zu verteidigen.

Eine Rücknahme der beschlossenen inhumanen Maßnahmen zur Durchführung des Asylverfahrens ist dringend geboten. Ohnehin sind es untaugliche Mittel, die Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland zu begrenzen. Wir glauben, daß auf parlamentarischer Ebene eine differenzierte Diskussion über eine angemessene Ausländer- und Zuwanderungspolitik vonnöten ist. Als zeichensetzenden ersten positiven politischen Schritt erachten wir die schnelle Schaffung eines Gesetzes zur Doppelten Staatsbürgerschaft. Denn nur das Herausführen der ausländischen MitbürgerInnen aus dem Ghetto der Bürgerrecht-Losigkeit eröffnet Möglichkeiten einer an gegenseitiger Akzeptanz und gemeinsamen Dialog orientierten Initiativarbeit auch hier bei uns vor Ort. Mit freundlichen Grüßen Freundeskreis für Ausländer,

Norderstedt-Harkshörn

Freundeskreis für Asylbewerber,

Norderstedt-Mitte

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