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„Die Lage ist mies, aber nicht hoffnungslos“

Der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Ernest Mandel über die Krise des Kapitalismus, das Ungleichgewicht zwischen Nord und Süd und die verlorengegangene Glaubwürdigkeit der sozialistischen Bewegung. Das Gespräch führte  ■ Erwin Single

taz: Herr Mandel, wann erleben wir den Anfang vom Ende des Kapitalismus?

Mandel: Für einen orthodoxen Marxisten ist die Frage in dieser Form nicht zu beantworten. Der Kapitalismus steckt in einer schweren Strukturkrise, die immer mehr mit einer Zivilisationskrise verbunden ist. Eine solche Krise kann auf zweierlei Weise enden: Entweder wird der Kapitalismus bewußt durch eine höhere Form der Gesellschaftsorganisation ersetzt, die ich selbstverständlich Sozialismus nennen würde. Nicht eine ideale und konfliktlose Gesellschaftsorganisation, das ist Unsinn, das haben Marx und Engels nie vertreten, kein Paradies auf Erden, aber eine menschlichere Zivilisation. Oder die Krise führt zu einem Untergang der beiden zentralen Gesellschaftsklassen dieser Wirtschaftsordnung, dem Bürgertum und den Lohnabhängigen – und zwar durch einen katastrophalen Rückgang der Produktivkräfte und der Zivilisation, wie wir es am Ende der Antike erlebt haben.

Die Wirtschaft steckt weltweit in einer Rezessionsphase. Stehen wir bereits am Anfang einer neuen Weltwirtschaftskrise?

Wir müssen da zwei Momente unterscheiden. Es gibt den normalen Industriezyklus, den sogenannten business cycle. In der Geschichte des Industriekapitalismus lassen sich in den letzten 170 Jahren 23 Überproduktionskrisen erkennen. Marx hat analysiert, daß die Dauer dieser Krisen bei 5 bis 10 Jahren liegt. Die letzte Rezession war im Jahre 1980/81. Genau 10 Jahre später setzte die neue internationale Rezession ein. Offen ist nur, ob es sich um eine allgemeine Rezession handelt, die alle wichtigsten kapitalistischen Länder samt der wichtigsten Schwellenländer umfaßt, oder um eine desynchronisierte Rezession, die sich auf Westeuropa und die angelsächsischen Länder beschränkt.

Angesichts dieser Entwicklung wäre seitens der taz-Redaktion eine Selbstkritik angebracht. Sie hatte in einer Rezension des Buches Cash, Krach und Krise, das Winfried Wolf und ich beim Verlag Rasch & Rörich veröffentlicht haben, über die Tatsache ironisiert, daß wir bestimmt mit einer neuen Rezession „sooner or later" rechneten. Aber das „früher oder später“ bezog sich sowohl auf die Unvermeidlichkeit der nächsten Überproduktionskrise wie auf ihr ungefähres Datum, das heißt, die historisch-empirische Dauer des Industriezyklus.

Wir sind also in einer lang anhaltenden Abschwungphase?

Diese Konjunkturbewegung ist eingebettet in eine lange depressive Welle, die seit Anfang der 70er Jahre andauert. Sie gibt dem normalen Konjunkturzyklus drei entscheidende Kennzeichen, die er in einer expansiven Phase nicht hat. Erstens: Die durschnittliche Wachstumsrate liegt um mehr als die Hälfte unter der in aufsteigenden Phasen. Zweitens: Die Erwerbslosigkeit steigt ungebrochen an. Ich würde grob schätzen, daß die Erwerbslosigkeit in den imperialistischen Ländern seit Anfang der 70er Jahre von 10 auf mindestens 50 Millionen gestiegen ist. Und Drittens: Unter diesen Bedingungen ist die Fähigkeit zu einem Krisenmanagement und zu einem erfolgreichen Durchbruch neuer Akkumulationsbedingungen nicht gegeben. Wir haben es in dieser Depression also mit einer Führungs- und Entscheidungskrise der herrschenden Klassen in weltweitem Maßstab zu tun.

Die Konjunkturapostel prophezeihen aber bereits den nächsten Aufschwung. Und wenn das nicht hilft, wollen die reichsten Industrienationen einige Milliarden lockermachen, um die Konjunktur anzukurbeln.

Die G-7-Staaten haben in der Vergangenheit sehr viel beschlossen, wovon nicht das mindeste realisiert wurde. Das wird auch diesmal so sein. Einen Konsens können Sie haben, solange es gut geht, dann profitiert jeder ein bißchen. Aber wenn es schlecht geht, will niemand verlieren und jeder versucht, den Schwarzen Peter dem anderen zuschieben.

Liegt das nicht auch daran, daß niemand mehr soviel Geld hat, um die Programme zu finanzieren, die wirklich greifen würden?

Natürlich ist der Umfang an realen Ressourcen, um radikale Änderungen vorzunehmen, so groß, daß es trotz der riesigen Liquidität sehr unwahrscheinlich ist, daß sich das zusammenfindet. Nur um eine Zahl zu nennen: Die Privatisierung der russischen Großindustrie würde 1.000 Milliarden US-Dollar kosten. Die gibt es nicht – nicht in Rußland und auch nicht im Westen. Im Vergleich zu dem, was nötig wäre, sind die gewährten Hilfen viel zu klein.

Noch einmal zurück zur Arbeitslosigkeit, die von der Politik noch immer als vorübergehendes Phänomen begriffen wird. Außerdem ist das Verständnis derer, die eine feste Arbeit und ein festes Einkommen haben, gegenüber den Erwerbslosen äußerst gering.

Das traf vielleicht vor einigen Jahren zu, heute stimmt es weniger und weniger. Ich glaube, daß in breiten Kreisen der Arbeiterschaft das Bewußtsein über die Erwerbslosigkeit und ihr Anwachsen tief verankert ist. Es gibt kaum einen Gewerkschaftstag, wo dies nicht artikuliert wird. Aber die neokonservative Politik, allen voran die Thatcher-Regierung und die Reagan-Administration, blieb nicht erfolglos. Um die Austeritätspolitik und das Nachgeben gegenüber dem Großkapital zu rechtfertigen, hat man den Arbeitern und Gewerkschaften einzureden versucht, es sei ihre Schuld, daß es so viele Erwerbslose gebe.

Was wäre die Alternative? Den Gewerkschaften gebricht es doch an Durchsetzungskraft.

Es ist doch absolut eindeutig, daß die berüchtigte Formel von Helmut Schmidt, die Gewinne von heute seien die Arbeitsplätze von morgen, nicht stimmt. Das kann man belegen. Erstens, weil die überwältigende Mehrheit der Investitionen, die durch größere Profite finanziert werden, Rationalisierungsinvestitionen sind, die mehr Arbeitsplätze aufheben, als sie neue schaffen. Und zweitens, weil die Erpressung mit der Verlagerung von Produktionstätten in Billiglohnländer grenzenlos ist. Man wird immer ein Land finden, in dem die Löhne noch niedriger sind. Eine Arbeiterbewegung, die dieser Erpressung nachgibt, wird eine dauernde Reduktion der Löhne und Arbeitsbedingungen hinnehmen müssen – ohne die mindeste Garantie, daß die Arbeitslosigkeit zurückgeht. Man muß dem eine andere Strategie entgegensetzen – eine Strategie der internationalen Zusammenarbeit der Gewerkschaften, um eine aufsteigende Spirale der Lohnverhältnisse zwischen den Billig- und Hochlohnländern zu ermöglichen.

Nun gibt es aber gerade im Lager der Linken, unter Gewerkschaftern und den Sozialdemokraten viele, die lieber nach protektionistischen Maßnahmen rufen.

Stimmt – und das ist eine selbstmörderische Politik gegenüber einem internationalen Kapital, daß qualitativ stärker mobil ist als je zuvor. Es gibt weniger als 700 multinationale Konzerne, die heute den Weltmarkt, wenn auch nicht total, so doch weitgehend beherrschen und die bewußt auf eine internationale Diversifizierung der Produktion abzielen. In einer Welt mit wachsender Globalisierung objektiver Prozesse sich auf nationale Souveränität und Protektionismus zurückzuziehen, ist irrational – denken Sie nur einmal an die Verschmutzung der Luft oder das Ozonloch. Können wir das Ozonloch über der Bundesrepublik oder Belgien zustopfen? Das ist doch unrealistisch, total unrealistisch!

Das bedeutet natürlich nicht, daß es nicht möglich wäre, mit einem Abbau der kapitalistischen Wirtschaftslogik dort zu beginnen, wo die politischen Kräfteverhältnisse dafür günstig sind. Ein paar Länder, Frankreich etwa und Spanien, Italien, die Bundesrepublik. Aber das wäre nur ein Beginn, danach müßte der Prozeß sehr schnell internationalisiert werden, sonst führt es zu nichts.

Die meisten Linken träumen nach wie vor von keynsianistischen Programmen, die sich außer Japan niemand mehr leisten kann.

Man könnte es sich schon leisten, nur der politische Wille fehlt. Es gibt da ein Paradox: Die neokonservativen Regierungen, allen voran in Großbritannien und den USA haben in den letzten Jahren mehr Geld ausgegeben als je zuvor; der Anteil der Staatsausgaben am Bruttosozialprodukt ist noch nie so hoch gewesen. Das einzige, was sich verändert hat, ist eine Verlagerung von Sozial- und Infrastrukturausgaben hin zu Rüstungsausgaben und Subventionen für die Privatwirtschaft. Die Mittel sind also da. Man könnte das Ganze umkehren; es wäre gesamtwirtschaftlich, sozial und moralisch sogar ratsam und notwendig – doch dazu muß man den politischen Willen haben. Das würde einen Bruch der Konsenspolitik mit dem Großbürgertum bedeuten – und zu diesem Bruch ist ein Großteil der Sozialdemokratie und leider auch der grünen Realos nicht bereit.

Wo sehen Sie die drängendsten Probleme?

Der bei weitem wichtigste Gegensatz mit den verheerendsten Folgen ist das Ungleichgewicht zwischen Nord und Süd, die wachsende Armut in der Dritten Welt. Offizielle UN-Instanzen schätzen die Zahl der Armen, und das mit einer unheimlich gemäßigten Armutsdefinition, auf über eine Milliarde Menschen. Die Hälfte der Weltbevölkerung ist praktisch nur mit 15 Prozent am Welthandel beteiligt – das ist eine der größten Bremsen für einen langfristigen Aufschwung der Wirtschaft. Die Folgen der Verarmung sind nicht nur ökonomisch verheerend, sie führen auch zu riesigen gesellschaftlichen Gefahren. Der Hunger in der Dritten Welt fördert armutsbedingte Seuchen wie Cholera oder Tuberkulose. Es ist absolut illusorisch zu glauben, daß die Folgen nicht auch auf die westlichen Länder zurückschlagen werden. Das zeigt sich in westlichen Metropolen wie New York. Die Dritte Welt rächt sich dadurch, daß ein Teil dieser Gesellschaften selbst verdrittweltlicht wird. Wenn man nicht zu einer radikalen Umkehr der internationalen Politik kommt, die diese fürchterlichen Verarmungserscheinungen auffängt und reduziert, werden riesige Katastrophen auf uns zukommen.

Wer arm ist, kann auch nicht investieren. So wird der Abstand zwischen armen und reichen Ländern immer größer. Wie kommt man aus dieser Spirale heraus?

Den Hunger in der Welt auszuschalten ist kein technisches Problem. Das erfordert nicht mehr als eine bewußte Steuerung bei der Nutzung der bestehenden wirtschaftlichen Ressourcen weltweit. Nicht ein Herabsetzen des Lebensstandards im Westen – das ist überhaupt nicht notwendig. Es gibt heute riesige Reserven, die schätzungsweise 50 Prozent der bestehenden Wirtschaftsressourcen ausmachen dürften – ungenutzte Produktionskapazitäten und solche, die bislang zu destruktiven Zwecken genutzt wurden wie die Rüstungsindustrie. Die technischen Möglichkeiten sind also vorhanden. Man müßte allerdings die Technologie so ändern, damit sie nicht weiterhin Natur und Mensch zerstört.

Sie haben oft den Marxschen Satz zitiert, der Kapitalismus führe in den Sozialismus oder in die Barbarei. Glauben Sie das heute noch?

Wir haben es heute mit einer Kombination der schweren Systemkrise des Kapitalismus mit jenem Phänomen zu tun, was man in meiner Organisation, der Vierten Internationalen, eine allgemeine Krise der Glaubwürdigkeit des Sozialismus nennt. Diese Glaubwürdigkeit ist in den Augen der breiten Massen verschwunden – nicht nur durch den Zusammenbruch im Osten, sondern auch durch die schwere Enttäuschung in Verbindung mit der Sozialdemokatie. Und da es links von diesen beiden Strömungen keine politisch glaubwürdige Alternative gibt, ist für die breiten Massen auch keine glaubwürdige Alternative gegenüber dem Kapitalismus vorhanden. Das liegt nicht daran, daß sie den Kapitalismus lieben. Aber sie sind nicht, wie die Generationen vor ihnen, in die Perspektive einer gesamtgesellschaftlichen Alternative eingebettet; single issue movements, wie man im Englischen sagt. Es wird lange dauern, bis man diese Glaubwürdigkeitskrise überwinden wird.

Inzwischen herrscht doch in weiten Kreisen der Linken ein Konsens darüber, daß die Ökonomie marktorientiert bleibt und daß sich die Politik auf keine weiteren sozialistischen Abenteuer der Nationalisierung oder Verstaatlichung der Wirtschaft einläßt.

Das Problem ist doch gar nicht die Verstaatlichung. Schon 1950, als die Sozialdemokraten noch für Verstaatlichung eintraten, haben die jugoslawischen Kommunisten gesagt, dies sei die niedrigste Form der Sozialisierung. Ich würde den Spieß total umdrehen. Statt uns über ideologische Fragen oder Definitionen zu streiten, sollten wir uns die unmittelbaren Bedürfnisse der Menschen ansehen.

Ein Beispiel: Ich habe in einem polnischen Großbetrieb mit den dortigen Gewerkschaftlern über die Probleme der Wirtschaft diskutiert. Die Schockmedizin hat unglaubliches Massenelend verursacht, sogar die Kirche schämt sich. Wenn jeder genügend zu essen, jeder den gleichen Zugang zu einem kostenlosen Gesundheitswesen, die Obdachlosen eine Wohnung bekämen – das würde schon reichen. Ich habe vorgeschlagen, die bestehenden Wirtschaftsressourcen sollten prioritär für die Verwirklichung dieser drei Ziele benutzt werden. Die Gewerkschafter haben geantwortet: „Wir hassen dich, du bist ein Kommunist, ein Marxist, aber wir sind bereit, für diese Ziele zu kämpfen.“ Mehr brauche ich nicht. Die Menschen sind bereit, sich dafür einzusetzen. Die Frage ist nur, ob wir bereit sind, auch den politischen Preis dafür zu bezahlen.

Mit solchen Zielen kann man auch langsam die Glaubwürdigkeit einer alternativen, besseren Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wiedergewinnen – unter einer Bedingung: Die sozialistische Bewegung muß ihre eigene Glaubwürdigkeit wieder herstellen. Sie darf diesen Interessen niemals irgendwelche politischen Machtziele überordnen. Und sie muß die historisch gewachsene und sowohl von den Stalinisten als auch von den Sozialdemokraten zerstörte Einheit von Sozialismus und Freiheit rekonstituieren.

Aber das reformistische Lager wächst und wächst. Die meisten Menschen glauben doch inzwischen, daß der Kapitalismus lernfähig und die Institution Ökonomie sehr wohl demokratische, soziale und ökologische Funktionen erfüllen kann.

Überhaupt nicht! Der Kapitalismus ist strukturell verbunden mit privatem Bereicherungstrieb, Konkurrenzdenken, kurzfistigem Egoismus – das läuft auf Weltzerstörung hin, das bedroht das physische Überleben der Menschheit. Dagegen vertreten die Sozialisten die Grundwerte von Kooperation und Solidarität. Wenn man die elementare Notwendigkeit von Solidarität bricht – im Betrieb, in der Gewerkschaft, im Land, auf der Welt – dann gibt es auch keine Grenze für Konflikte, Gewalt und Selbstzerstörung mehr.

Noch etwas liegt mir aus meiner Lebenserfahrung stark am Herzen: Ich war gerührt, als ich die Lichterketten in Deutschland gesehen habe. Ich mache mir keine Illusionen, damit wird die rechtsextreme Gefahr nicht aufgehalten. Aber immerhin! Wenn wir das 1930 gegen den wachsenden Antisemitismus erlebt hätten, wäre es für Hitler nicht so leicht gewesen. Und es gibt viele andere Beispiele. Die Lage ist schlimm, ist schlecht, ist mies, alles, was Sie wollen, aber sie ist nicht hoffnungslos.

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