Man schlägt nicht mehr ohne Von Walter Glatt

Der Abend war mild, und eine sanfte Brise strich durch die Blätter der Kastanienbäume über uns, streichelte zärtlich unsere Haut. Ein verbotener Joint machte die kriminelle Runde. Nie hätte ich für möglich gehalten, daß einer der mit mir am selben Tisch sitzenden jungen Spunde die Unverschämtheit besitzen würde, ausgerechnet mir das Ding anzubieten. Gleichsam überrumpelt von dem liederlichen Versuch, mich in die Sache hineinzuziehen, nahm ich begierig an und sog das Achtblatt in Nullkommanix zur Neige. Zwar brachte mir das einige verständliche Unmutsäußerungen der Gierschlunde ein, aber auch ein angenehmes Gefühl wohliger Gelöstheit. Schon sehr bald entspann sich eine tolle Diskussion mit den aufgeweckten Kerlen, immer wieder nett unterbrochen allerdings von kleineren Straftaten.

Derweil ging am Nebentisch alles legal zu. Die Gesellschaft war bester Dinge. „Kulturdrogen“ flossen in Strömen. Der schmächtige Kellner im Muscle-Shirt war bier- und kornmäßig überfordert. Und dann entwickelten die zwanghaft Fröhlichen ein gar lustiges Terrorsystem. Einer erzählte etwas, dann brüllten alle. Und so fort. Das Teuflische: Im Verlaufe des Abends wurden beide Seiten stetig lauter. Als sie zu grölen begannen und ab und an einer wie von der Tarantel gestochen hochzirkelte, um zum Kotzen in die Büsche zu torkeln, flohen wir.

Wir verließen eine Gruppe von Menschen, die bei allem, was sie in ihrem Rausch in dieser Nacht noch an Dummheiten oder Verbrechen anstellen mochten, in jedem Fall mit viel Verständnis rechnen konnten. Erschlug einer der volltrunkenen Herren anschließend „im Affekt“ etwa seine Frau oder zündelte ein wenig herum, so müßte er lediglich nachweisen, daß er vor der Tat ordentlich gebechert hatte, um vor Gericht gleichsam automatisch in den Genuß „verminderter Schuldfähigkeit“ oder gar einer Bewährung zu gelangen. Ob neudeutsche rassistische Schlagetots, ob Vergewaltiger, Mörder oder Kindesmißhandler – man schlägt nicht mehr ohne.

Jüngst erst wurde ein 32jähriger Bautischler, der plötzlich auf eine ihm unbekannte 18jährige eingestochen und diese lebensgefährlich verletzt hatte, zu dreieinhalb Jahren verurteilt. Das Gericht sah keine Tötungsabsicht, obschon der Mann gezielt in den Kopf seines Opfers gestochen und damit „möglicherweise irreparable Sprachstörungen“ verursacht hatte. Dafür wurde ihm „wegen seines stark angetrunkenen Zustands“ mit verminderter Schuldfähigkeit zugeprostet. Ebenfalls kürzlich erst entging ein 53jähriger Berliner Hauswart einer lebenslangen Haft dadurch, daß er sich vollaufen ließ, bevor er seine „Partnerin“ mit Blumendraht von hinten erdrosselte und anschließend mit „mindestens 15 Hammerschlägen auf den Kopf“ zerschlug. Neun Jahre erhielt der Ex- Söldner für dieses Verbrechen.

Täglich werden derlei Urteile gesprochen, während die Hänflinge wegen einiger Gramm eines milden Therapeutikums in den Knast müssen. Da fragen wir doch: Was geschieht mit der wandelnden Chemnitzer Autobombe, die letzte Woche mit 4,18 Promille aus dem Verkehr gezogen wurde? Anklage wegen vielfachen versuchten Mordes? Na hörnse mal, der war doch sturzbetrunken!