: „Schlafen Sie mal drei Wochen auf der Straße!“
■ Die „Nacht der Wohnungslosen“ sorgt für Problembewußtsein, sonst nichts
Berlin (taz) – Gegen 23 Uhr stecken acht Dart-Pfeile im Gesicht von Irmgard Schwaetzer. „Frau Bauministerin ist nicht gekommen. Hier könnt ihr sie treffen!“, steht unter ihrem Photo auf der Stellwand.
Den wenigen VolksvertreterInnen, die leibhaftig zur zentralen Veranstaltung zur Nacht der Wohnungslosen von Freitag auf Samstag auf den Berliner Breitscheidplatz gekommen sind, werden immerhin mit aggressiven Fragen konfrontiert. „Es stehen in Berlin 20.000 Wohnungen leer. Wer gibt uns das Geld, die zu renovieren?“,will ein wohnungs- und arbeitsloser Tischler wissen. „Geben Sie mir eine Wohnung? Ich bin 54, komme aus Kreuzberg und habe eins auf den Kopf gekriegt, weil ich in der falschen S-Bahn saß“, schluchzt eine zierliche Frau mit verbundener Stirn ins Mikrophon. Sie wird auch heute nacht auf ihrer Bank in Kreuzberg schlafen, ihr ist es viel zu laut hier. „Wissen Sie, daß das Sozialamt jede Nacht 50 Mark für mein Sechsbettzimmer in einer Läusepension zahlt?“, fragt ein anderer. Die 800 Mark Miete für die Wohnung, in der er vorher mit seiner Frau lebte, zahlte es nicht.
Die Wohnunglosen fordern lauthals Antwort, sei es von Berlins Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD), die auf das „geschützte Marktsegment“ von 2.000 für Obdachlose reservierten Wohnungen verweist, sei es von Gabriele Iversen (SPD), die Verankerung des Rechts auf Wohnen im Grundgesetz fordert, sei es von Dietmar Kansy, wohnungspolitischer Sprecher der CDU, der die Mittel für den Wohnungsbau umverteilen will oder von Ilja Seiffert (PDS), der fordert, Reiche für den Neubau von Wohnungen stärker zur Kasse zu bitten. Wer versucht, sich zu entschuldigen, weil er nicht über Nacht bleibt, wird ausgebuht. „Sie haben schließlich ihre Villa in Zehlendorf!“ „Schlafen Sie mal drei Wochen auf der Straße!“
Die wohnungspolitische Sprecherin der SPD, Gabriele Iversen, hat es versucht, doch bis um vier sangen Obdachlose am Lagerfeuer laut zur Gitarre oder beschimpften Politiker. Am nächsten Morgen aber sagt sie mit übernächtigtem Gesicht: „Wenn diese Nacht dazu führt, daß die Diskussion um Wohnunslosigkeit nicht mehr zur Seite gedrängt wird, hat es sich schon gelohnt, daß ihr uns die ganze Nacht die Hölle heiß gemacht habt.“
Ob die Nacht der Wohnungslosen von Freitag auf Samstag die Diskussion um eine andere Wohnungspolitik wirklich vorantreibt, wird sich zeigen. In etwa 120 deutschen Städten fanden Sleep-Outs mit unterschiedlicher Beteiligung statt, darunter in Frankfurt, Hannover, Stuttgart, Halle und Leipzig. Kaum 100 Menschen kamen auf den Hamburger Gerhart- Hauptmann Platz, von denen nur die tatsächlich Wohnungslosen übernachteten. Die Domplatte in Köln bevölkerten etwa 300 Sympathisanten, grillten Würstchen und sangen Dylan-Songs. In Gera schrieben die TeilnehmerInnen die Adressen leerstehender Wohnungen auf das Straßenpflaster. Das Haus, das etwa 20 junge Leute in Hanau besetzt hatten, um sich mit den Obdachlosen zu solidarisieren, wurde schon Samstag morgen geräumt. Werena Rosenke von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ist trotzdem zufrieden mit dem Verlauf. „Am wichtigsten ist, daß viele auf das Problem aufmerksam geworden sind“, so Rosenke.
Nach den Schätzungen der Veranstalter waren etwa 4.000 Menschen am Freitag abend zu der zentralen Veranstaltung in Berlin gekommen. Immer wieder kommt es auch zu Diskussionen zwischen Betroffenen und solchen, die eine Wohnung haben. Auch Claus Isensee, Mitglied der Betroffeneninitiative innerhalb der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, ist daher mit der Aktion zufrieden.
Es sei gelungen, das öffentlichkeitswirksame Zeichen zu setzen, das sie sich gewünscht hätten. Er bedauert nur, daß so viel Alkohol getrunken wurde. Die Betroffeneninitiative versuchte, die Obdachlosen davon zu überzeugen, einen Abend lang nichts zu trinken. „Aber das gehört dazu, es ist einfach realistisch. So ist das Leben auf der Straße.“
Wer kam, obwohl er zunächst seine Teilnahme abgesagt hatte, war der berlin-brandenburgische Bischof Martin Kruse. „Sie werden mich sicherlich fragen, tut denn die Kirche genug? Ich muß Ihnen antworten: Nein“, so Kruse bei seinem Grußwort kurz vor Mitternacht. Die Nacht solle ein Anlaß sein, zu überlegen, ob die Kirche nicht mehr Räume zur Verfügung stellen und weitere Notunterkünfte organisieren könnte.
Als sich die TeilnehmerInnen nach dem Diskussionsforum zerstreuen, bleiben die auf den Bänken sitzen, die immer dort sitzen. Über den Ku'damm zieht mit Musik, Tanz und Sekt der Umzug zum Christopher Street Day vorbei. „Da kommt wohl gleich die nächste Demo“, meint ein Wohnungsloser irritiert und starrt auf die gegschmückten Wagen und die phantasievoll bunt oder in Leder gekleideten Gestalten darauf. „Naja, die haben wohl auch ihre Probleme...“ Ein anderer, der seine Plastiktüte schon gepackt hat, um seine nächste S-Bahn-Rutsche zu starten, meint, wenigstens hätten die Obdachlosen jetzt auch mal gezeigt, wie es mit ihnen aussehe. Beate versorgt ihre Gruppe gerade mit Weinbrand. „Uns geht's beschissen“, sagt sie. Die Nacht sei ja ganz schön gewesen. „Aber die gehen jetzt nach Hause, duschen und legen sich aufs Sofa. Für uns ändert sich nichts.“ Corinna Raupach
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