Hauptstadtmusik: Vom Berliner Belcanto
■ oder: Einmal Curry mit Schlamm bitte!
Daß die Geschmacksnerven ganz dicht hinter den Ohren liegen müssen, dafür gibt es viele gute Zeugen. In der Geschichte der Gastronomie zum Beispiel den französischen Freß-Philosophen Brillat-Savarin, der vorzüglich die Geige spielte und die Musik so liebte, daß er ihr beinahe sein Leben gewidmet hätte; aber dann wurde er doch lieber Profi- Gourmet. Auch kennt die Musikgeschichte reichlich Komponisten mit ausgeprägt kulinarischer Nebenbegabung: Reger und Rossini waren bekanntlich große Esser, Händel sowie Mozart, und sogar der Leidensmann Beethoven hat in seinen Konversationsheften so viele detaillierte kulinarische Hinweise geliefert, daß findige Forscher daraus längst Beethovens Kochbuch rekonstruiert haben.
Dies eingedenk, könnte man angesichts der planvollen Weiterentwicklung unserer altneuen Haupt- zu einer permanenten musikalischen Festspielstadt (in der, um nur ein Beispiel zu nennen, alteingesessene Sprechtheater laufend umgewandelt werden in innovative, tourismusintensive Musicalproduktionsstätten) fast ernstlich in Sorge geraten. „Der Berliner an und für sich hat keinen Geschmack!“ Dies rief, mit vollem Mund, erst neulich wieder einmal ein offenbar frisch Dahergezogener, ohrenkundig aus Schwabenland, und meckerte weiter zwischen zwei zarten Bissen Saltimbocca (wie am Nebentisch beim Italiener unfreiwillig belauscht) – nicht etwa über die „Hochzeitsnacht im Paradies“ im Metropol oder über die Belcanto- Revue im Friedrichstadt-Palast oder über den neuen Staatsopern-Rigoletto, was alles sicherlich gut gesprochen gewesen wäre – nein, er räsonierte über die Spezialitäten, mit denen die märkischen Musen die internationale Kochkunst bisher bereichert hätten: Kochkäse, Salzgurke, Schusterjunge und Leinöl, pfui Deibel. Der Mann hatte im Prinzip wohl recht. Nur hat er eine Delikatesse dabei vergessen, mit der die Hauptstädter schon längst im Handstreich alle Prinzipienreiter aus dem Felde geschlagen haben: die Curry mit Schlamm. Man kriegt sie an jeder Ecke, süß von Nitrit innen und bitter verbrutzelt außen, und der rote Sumpf, der sie umsuppt, wurde, das ist historisch erwiesen, auch wirklich mitten in Berlin erfunden. Sie ist unwiderstehlich, sie macht süchtig, sie schwächt die Nerven. Was kann man zum Lobe einer Mahlzeit oder eines Musikstücks Besseres sagen?
Die Berliner jubeln seit nunmehr zehn Jahren ein bis zweimal jährlich ihrer sogenannten „Berliner Callas“ zu. Im wirklichen Leben heißt sie Lucia Aliberti, und für die Morgenpost ist sie sowieso schon lange nur noch „die Aliberti“. Sie hat einst hier in Berlin in der Deutschen Oper ihre Karriere begonnen und schaut seither ab und zu für ein, zwei Opernabende vorbei. Sie singt dramatischen Koloratursopran, das Lyrische liegt ihr weniger – dabei singt sie am liebsten, sagt sie, die lyrischen Partien aus den hierzulande so selten gespielten Opern Vincenzo Bellinis.
Sie setzt nie einen Spitzenton daneben, doch geht sie sparsam damit um. Man hat ihrer Stimme schon immer deutlich anhören können, wie eisern sie daran arbeiten muß. Doch kann sie, und das ist ihre Stärke, ganz plötzlich sauber im pianissimo angesetzte, flinke, zierliche Rouladen absondern, liebliche Tonperlenketten, blitzschnell einmal rauf, einmal runter. Und holt tief schluchzend Luft. Preßt und stemmt und strengt sich an. In den Mittellagen sind ihre merkwürdigen Verzierungstechniken und Manieren manchmal kaum auszuhalten: dann wird sie schrill oder bleibt unvermutet ganz weg.
Es gibt seit Anfang des Jahres eine Gesamtaufnahme von Bellinis „Beatrice di Tenda“ mit Aliberti und dem Orchester der Deutschen Oper auf dem Label „Berlin Classics“ (jene Firma, die bekanntlich die Erbmasse des DDR-Labels Eterna übernommen und sich nicht nur einen unübertroffen echt berlinerisch neuen Namen, sondern ein noch weit geschmackloseres neues Logo ausgedacht hat, ein stilisiertes Brandenburger Tor nämlich, in den Farben Schwarz-Rot- Gelb, jawohl, Gelb! Igitt! Aber das ist nun wirklich ein anderes Thema). Auf dieser Platte jedenfalls treten sämtliche sängerischen Marotten von Lucia Aliberti grausam an die Oberfläche – obgleich es sonst eine sehr schöne und schmissige Bellini-Einspielung ist.
Aber wenn sie, wie jetzt wieder im Juni, leibhaftig auf der Bühne steht. Wenn sie Gala gibt und im Duett vergeht neben ihrem Partner, jenem wunderschönen alten Mann: dem unverwüstlichen Belcantotenor Alfredo Kraus mit der strammen Haltung und dem glitzernden Blick, der im Rentenalter immer noch einen Schmelz auf der Stimme hat, daß man ihm den Romeo genauso liebend gern abnimmt wie den jungen Werther. Wie sie dann blaß und wahnsinnig wieder als Lucia di Lammermoor durch die dunkle Weite der leergefegten Bühne wandelt. Und weil sie uns doch wieder, wie einstmals, unverhofft einen ihrer superpiano plazierten, irisierenden Triller ins Ohr zu kringeln weiß. Weil sie dabei so niedlich nervös ist, so mädchenhaft magersüchtig, so herrlich die Hände ringen und an den kaum vorhandnen Busen drücken kann. Weil sie unsere Aliberti ist. Innen süß und außen bitter. Deshalb verzeih'n wir Berliner ihr alle Marotten. Tröstet ein Herr in der Pause am Buffett seine Dame: „Die Callas, die hatte ebent doch ooch so paar brutale Töne am Hals, Herzchen, wa!“ Hatte sie, ebent. Eleonore Büning
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