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: Zettels Traum

„Der große Preis“, Sa. 20.15 Uhr, ZDF

Natürlich sind alle betrunken. Schließlich ist es 3 Uhr am Morgen. Geburtstagsfeier eines guten Freundes. Kubanischer Rum fließt, und zu Hause läuft einsam der Videorecorder. Als ich, pflichtbewußt, die Fete vorzeitig verlassen will und als Grund Carolin Reiber angebe, die zum ersten Mal den „Großen Preis“ moderiert, ernte ich Gelächter und jede Menge obszöner Bemerkungen. Jetzt noch Auto zu fahren sei ein Risikoooooo! Ein Kollege von der Frankfurter Rundschau nimmt mich fürsorglich in den Arm und sagt: „Das mit der Kritik, das machen wir schon.“ Weitere Kollegen kommen hinzu. Ein Satz gibt den anderen ...

Irgendwie muß ich dann doch in meinem Bett gelandet sein. Den Zettel mit der fiktiven Carolin-Reiber-Kritik habe ich wohl in einem Glas kubanischen Rums aufgelöst. Halb nüchterne Feststellung: Mit Caroline Reiber aufzuwachen zählt nicht zur Erfüllung meiner Wunschträume. Aber was soll's. Die Kandidaten sind schon da. Ein Stabsarzt der Bundeswehr, der sich für Caravaggio interessiert. Was es nicht alles gibt. Wohlmeinend betulich nimmt Carolin die jungen Menschen in die Pflicht. Das hat den Charme eines Rundgangs durch ein Seniorenheim. Und dann kommt auch noch Nicole.

Der Redakteur, der sich zwischenzeitlich fernmündlich nach dem Verbleib der versprochenen Kritik erkundigt, bedauert, daß er mir kein Aspirin faxen kann. Aber das hätte es auch nicht rausgerissen.

Dann erscheint der Verkehrsminister, der nicht gegen Autos ist, aber Applaus erntet, weil er den Verkehr stärker auf die Schiene verlegen will. Was soll man da noch sagen?

Am Ende gewinnt man den Eindruck, Carolin hätte den „Großen Preis“ schon immer moderiert. Wobei rätselhaft bleibt, ob das an ihr oder an der Show liegt. Die postalkoholische Wirkung begünstigt beim Zuschauer jedenfalls einen Blickwinkel, der wie beim impressionistischen Maler nur Konturen und Farben hervortreten läßt. Eine Art volkstümlicher Surrealismus.

Hätte ich nur auf den Zettel mit der fiktiven Kritik besser aufgepaßt. Träge schäle ich mich aus den Federn, spule die Kassette zurück und beginne zu schreiben. Als alles getan ist, finde ich in der Tasche meines Bademantels einen zerknüllten Zettel ... Manfred Riepe