piwik no script img

Tschernobyl und kein Ende in Sicht

■ Schilddrüsenkrebs in verstrahltem Belarus wird weiter steigen / 100.000 Kinder müßten eigentlich heute schon behandelt werden / Es fehlen Therapieeinrichtungen

Keine Gesundheitsschäden durch Tschernobyl? Noch 1991 lautete der offizielle Tenor: „Es gibt in der Bevölkerung keine Gesundheitsstörungen, die direkt einer Strahlenbelastung zugeordnet werden können.“ Diese Meldung wurde damals von der Internationalen Atomenenergiebehörde in Wien weltweit verbreitet. Eine Kommission von 600 „Experten“ aus der GUS und 200 aus westlichen Ländern, darunter 16 aus der Bundesrepublik, hatte der Behörde ihre Untersuchungsergebnisse zu den Folgen von Tschernobyl vorgelegt. Bereits 1990 jedoch war bekannt, daß in Belarus seit dem Reaktorunfall ein ungewöhnlich hoher Anstieg bei Neuerkrankungen von Schilddrüsenkrebs bei Kindern zu verzeichnen war.

So viele Wissenschaftler können sich nicht irren? Mitnichten. „Unter logischen Gesichtspunkten lassen sich die Aussagen der Expertenkommission nicht erklären“, schloß denn auch der Münchener Arzt und Strahlenbiologe Professor Edmund Lengfelder auf einer kürzlich von der „Aktion Strom ohne Atom“ initiierten Veranstaltung in Kirchheim am Neckar: „Die meisten Untersuchungen waren wohl richtig“, räumt er ein, aber: „Die Quintessenz in Sachen Gesundheitsfolgen war falsch.“ Könnte die wissenschaftliche Logik vielleicht deshalb verwässert worden sein, weil, seinen Angaben zufolge, nicht nur die westlichen Experten von staatlichen Dienststellen ausgesucht worden waren, sondern weil die Atomenergiebehörde die „Beschleunigung und Ausweitung des Beitrags der Atomenergie für Frieden, Wohlstand und Gesundheit“ in ihrer Satzung verankert hat? Für Lengfelder jedenfalls ist die Beziehung zu radioaktivem Jod und Korrelation zwischen dem „Ereignis“ Tschernobyl mit der reaktorbezogenen Abstandsabhängigkeit bezüglich der Häufung von Schilddrüsenkrebs Beweis genug, daß diese Karzinome auf Tschernobyl zurückzuführen sind.

70 Prozent des Fallouts gingen 1986 auf Weißrußland nieder. Mit der Nahrung und der Atmung nahm die betroffene Bevölkerung extrem viel radioaktives Jod auf, das sich im besonders strahlenempfindlichen Schilddrüsengewebe konzentrierte. Entzündungen, Unterfunktionen und Karzinome der Schilddrüse stiegen daraufhin sprunghaft an. Der weißrussische Gesundheitsdienst, der eng mit dem Münchener Strahlenbiologen zusammenarbeitet, wartet jetzt mit aktuellen Schreckensmeldungen auf: Zwischen 1976 und 1986 seien in Belarus (10,5 Millionen Einwohner) jährlich bis zu zwei Neuerkrankungen zu verzeichnen gewesen – 1992 waren es bereits 65. Und das dicke Ende komme noch: Die mittlere Latenzzeit wird bei kindlichen Schilddrüsenkarzinomen auf etwa 15 Jahre geschätzt. Lengfelder befürchtet daher auch für die Zukunft, „daß die Zahlen noch mehr ansteigen. Die Gesamtzahl läßt sich heute noch nicht abschätzen“.

Fehlbildungen der Schilddrüse können bei Säuglingen zu Hirnschäden und bei Kindern zu Fehlentwicklungen der Geschlechtsreife sowie zu Störungen des Grundumsatzes und des Körperwachstums führen. 100.000 Kinder müßten nach Einschätzung von Professor Lengfelder behandelt werden. Noch allerdings sei bei den meisten lediglich eine internistische Therapie von Schilddrüsenunterfunktion und -entzündungen erforderlich. Bei rechtzeitiger Erfassung sei eine 85- bis 90prozentige Therapierate zu erreichen, das entspreche dem westdeutschem Standard.

Seit Januar 1993 können jährlich etwa 10.000 betroffene Kinder in einem von Lengfelder ins Leben gerufenen und betreuten Schilddrüsenzentrum in Gomel untersucht und therapiert werden. Für Diagnose und Therapie – im Bedarfsfall über fünf Jahre – werden pro Kind durchschnittlich lediglich 100 Mark veranschlagt. Trotz dieser geringen Summe leidet das Projekt, das unter anderem von Spenden finanziert wird, unter Geldmangel. Inga Grigoleit

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen