: Big Mac an der Moldau
Drei Jahre nach der „samtenen Revolution“ ist in Prag eine amerikanische Kolonie entstanden ■ Von Tomas Niederberghaus
„In den Staaten heißt es, daß es in dieser Stadt viele Intellektuelle gibt“, sagt Alex Clews, „und daß man hier billig leben kann.“ Gerade einmal 48 Stunden ist der 25jährige Student aus Maine in Prag. Er findet alles irrsinnig exciting und trägt sich bereits mit dem Gedanken, für einige Monate zu bleiben.
Wie er kommen jeden Tag Dutzende transatlantische Collegeabsolventen in die „Goldene Stadt“. Gelockt von dem „Land des Dichterpräsidenten Václav Havel“, nennen sie sich „Wirtschaftsflüchtlinge“ und möchten die US-Rezession in Prags winkeligen Gassen aussitzen. 30.000 sollen es inzwischen sein. In der „Goldenen Stadt“ ist eine amerikanische Kolonie entstanden.
Die 23jährige Lisa L. Frankenberg ist bereits 1991 in die Moldau-Metropole gekommen, seitdem gibt sie die Wochenzeitung Prague Post heraus. „Ich hatte sofort das Gefühl, in dieser Stadt gebraucht zu werden. Prag hat mich gewollt, nicht ich Prag“, sagt Lisa.
Und damit scheint sie recht zu haben. Denn inzwischen arbeiten bei der Prague Post nicht nur vierzig In- und Ausländer, die Zeitung mit einer verkauften Auflage von 14.000 finanziert sich auch fast ausschließlich über Anzeigen. Sowohl tschechische als auch deutsche und österreichische Unternehmen in Prag sehen die US-Amerikaner als zahlungskräftige Kundschaft.
Prague Post ist neben den beiden anderen englischsprachigen Zeitungen Prognosis und business weekly ein wichtiges Sprachrohr für die neuer Prager Bohème. Dort ist zu lesen, what's going on in town. Sie liefert Hinweise, was bei der „amerikanischen Familie“ gerade in ist. Wer beispielsweise die vor wenigen Wochen von Bruce Shoemaker und Glen Emery eröffnete Kneipe „Thirsty dog“, oder „Jo's bar“ besucht, könnte meinen, in Los Angeles, New York oder Washington zu sein. Kalifornier philosophieren über Kafka, Kisch und Kunst. Markenzeichen der Weitgereisten: Baseballmützen, kurze Hosen, Wollsocken und Wanderschuhe.
Die nächtlichen Bier-Sitzungen im buntbemalten „Thirsty dog“ sind den Inhabern des gegenüberliegenden Nobelhotels „Pařiž“ ein Dorn im Auge. „Unsere Gäste können bei dem Krach nicht schlafen“, lautet die Klage. Über die Zukunft des „dürstenden Hundes“ sollen nun die Prager Richter entscheiden.
Doch „Thirsty dog“ und „Jo's bar“ sind nur ein Teil des amerikanischen Mikrokosmos. Eine US- eigene Schwulenbar, ein „American Hospitality Center“, „New York Pizza“, das Maklerbüro „South Shore Realty development corporation“ und der Waschsalon „Kings Laundry“ ergänzen das Angebot. Der Waschsalon ist zugleich Kontaktbörse: An einer riesigen Pinnwand hängen unzählige Inserate: Die Maisons suchen dringend einen Babysitter für Donnerstag, John möchte Theaterkarten für Dienstag loswerden, und ein Psychotherapeut bietet Hilfe in allen Lebenslagen. Ein Programmzettel macht das Programm der „Gemeinde“ für den kommenden Sonntag bekannt: morgens trifft man sich zum Brunch in Smichov, nachmittags geht's in den Letna- Park zum Frisbeespielen.
Im Sprachgewirr amerikanischer Koloniehochburgen sind selten tschechische Stimmen zu hören. Falls sich wirklich mal ein „Fremder“ verirrt, treten nicht selten absurde Situationen ein. In Prags „Café FX“ – die beiden Buchstaben stehen für die Hollywoodabkürzung von special effects – unterhalten sich zwei Bedienungen über die Gäste an Tisch drei: „Geh du mal bitte dorthin“, bat die eine die andere, „ich habe kein Wort verstanden, ich glaube das sind Tschechen.“
„Café FX ist Teil eines Kunst- und Kommunikationszentrums für jedermann“, erklärt die Besitzerin Bethea Zoli, „dazu zählt der Nightclub „Radost“ (Freude), ein Platten- und Buchladen sowie eine Galerie.“ Bethea Zoli und Ehemann Richard – sie Amerikanerin, er 68er Exiltscheche – sind vor gut einem Jahr nach Prag gekommen. Was sie an der Stadt reizt? „Ein normaler Mensch würde das vielleicht nicht sagen, aber es ist die Energie, die sich hier entlädt. In dieser Energie befruchten sich die beiden Kulturen“, sagt Bethea Zoli. Die Zolis organisieren regelmäßige Literaturlesungen, Schauspielworkshops und Aufklärungskampagnen wie zum Thema Aids.
Bei den Literaturlesungen präsentieren sich all jene, die sich durch Prags literarisches Erbe beflügelt fühlen. Die in Prag den Beginn einer großen Schriftstellerkarriere versuchen. Vor etwa hundert Zuhörern – neben ein paar Briten alles Amis – wird inbrünstig rezitiert, wobei die schrille Selbstdarstellung den Besucher ungleich mehr in Bann nimmt als die poetischen Ausbrüche. Inhaltlich geht es in der Regel um persönliche Erlebnisse wie Susans Streit mit Steve oder Scotts Begeisterung für Magnum-Eis. Die Qualität der Darbietungen hat unter den Amerikanern selbst zur kontroversen Diskussion geführt: Nachdem ein Rezensent in der Prague Post „Schülerniveau“ konstatierte, hagelte es Protest. „Wer mit den Amerikanern in Prag Probleme hat, sollte einfach die Stadt verlassen“, empfahl zwei Ausgaben später ein anderer.
So ist der Streit auch nur Teil einer generellen Frage: Wer oder was beschäftigt die US-Bürger in der, wie Gustav Meyerink Prag nannte, „Stadt mit dem heimlichen Herzschlag“? Ein großer Teil, so läßt sich bei der amerikanischen Botschaft erfahren, hält sich als Sprachlehrer finanziell über Wasser. Neben der „American International School“ gebe es eine Reihe privater Unterrichtsstätten. Dort wird tschechischen Kindern Basisenglisch eingetrichtert. Schon nach wenigen Wochen können sie „Old McDonald has a farm“ im Schlaf singen.
Eine andere Gruppe der US- Bürger bilden Geschäftsleute, Rechtsanwälte, Journalisten: Da ist die CNN-Reporterin Jenelle Hall. Sie findet es exciting, vor dem Hradschin in die Kamera zu sprechen, und sie möchte demnächst auch einmal nach Bosnien, um festzustellen, wer „dort eigentlich die Bösen sind“. Da ist die New Yorker Radiojournalistin in geblümter Plastikjacke und Tiger- Mini, die nach einer Pressekonferenz mit Václav Havel dem Präsidenten zwecks Autogramm schnell noch eines seiner Werke unter die Nase hält.
Und da sind Scott Alexander und John O'Brian: Die beiden 25- und 27jährigen Schreiberlinge haben zwei Jahre nach der „samtenen Revolution“ das Unternehmen „European Journalism Network“ gegründet. Ein Ausbildungszentrum, in dem radikalere Wege der Berichterstattung in postkommunistischen Ländern vermittelt werden. Alexander und Bryan begannen mit der Ausgabe einiger Zeitungen in Bratislava, Budapest und Kiew. „Diese jungen Journalisten wollen die neuen Meinungsmacher des Ostens werden“, bemerkt mit zynischem Unterton Dr. Jan Jirák, Journalismusprofessor der Prager Karlsuniversität, „doch die meisten von ihnen sind sich sicher, es heute schon zu sein.“
Der Pioniergeist der Amerikaner wird in Prag inzwischen kritisch unter die Lupe genommen. Mehr und mehr wird ihnen vorgehalten, auf Kosten anderer ihre Geschäfte abzuwickeln. „Tschechen sehen die Westler nicht mehr mit der rosa Brille“, sagt Jirka Kykal.
Nach Ansicht des 36jährigen Dozenten der Karlsuni findet der von den Amerikanern vielfach propagierte Kulturaustausch nur auf sehr begrenztem Raum statt. Wohl auch deshalb üben sich die Amis momentan in Distanz zu ihrer „Gemeinde“: Keiner möchte sich zum eigenen Clan zählen. Es sind immer die anderen, die sich in die tschechische Gesellschaft partout nicht integrieren und statt dessen das „Herz Europas“ amerikanisieren. „Tschechen und andere Europäer haben einen wahnsinnigen Nationalstolz. Auch deshalb brauchen sie unseren Einfluß“, sagte Radost-Besitzerin Zoli.
Am 4. Juli, dem amerikanischen Nationalfeiertag, haben die Emigranten dann unter Beweis gestellt, wie sie es mit dem Stolz halten. Ein Fest folgte dem anderen. Auf einer Barbecue-Party in einem kleinen Ort bei Prag standen sie mit wehenden Fähnchen und flackernden Wunderkerzen auf dem Balkon und trällerten lauthals ihre Hymne. Unzählige Big Macs türmten sich auf den Gartentischen.
Der Club „Reprs“, eine in Prags Gemeindehaus Obecni Dům eingenistete Ami-Discothek, lud zur Nacht der Nächte ein. Motto: „Be a patriot in your panties – come in your bad clothes!“ Strahlende Kennedy-Gesichter neben aufgedonnerten Monroe-Verschnitten ließen dann in Nachtgewändern zu Songs von Michael Jackson und Prince die Fetzen fliegen. „Das ist kafkaesk: in Prag an diesem Tag feiern und flirten. Solche Highlights ziehen wie ein Lauffeuer durch die Staaten“, so Alex Clews, „jetzt weißt du auch, warum ich hier bin.“
Doch bei vielen, die länger hier sind, hat das idealistische Prag-Bild inzwischen einige Kratzer erlitten: Die Stadt an der Moldau ist nicht das Paris der zwanziger Jahre, die Verdientsmöglichkeiten der aufstrebenden Literaten sind gering.
Im nachrevolutionären Prag übertrifft das Einkommen eines Taxifahres um ein Vielfaches ein Akademikergehalt, tschechische Durchschnittsverdiener können sich in Prag kaum noch einen Theaterbesuch leisten. Auch jenen Amerikanern, die mit kleinen Geldbeuteln und großen Hoffnungen anreisen, geht inzwischen das Geld aus. „Die Party mag noch nicht zu Ende sein, aber die Zapfhähne sind trocken, und die Band hat ihre Sachen gepackt“, schreibt Prague Post.
Und so enden auch viele Geschichten wie die von Philip Mokay: Der 23jährige aus San Francisco kam mit einem One- way-Ticket, um an der Prager „California Sun School“ zu unterrichten. „Mit 300 Dollar im Monat kannst du hier gerade mal deine Monatsmiete zahlen“, sagt Philip. Ihm wurde nach vier Monaten gekündigt. Durch die Masse amerikanischer Lehrer sei die hire and fire-Methode zur Masche geworden. „Der Prag-Traum ist ausgeträumt“, sagt Philip, „ich gehe nach St. Petersburg. Die Stadt wird in den Staaten momentan noch als Geheimtip gehandelt.“
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