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Das Wesen der Dinge

Zwischen Elektro und Botschaft e.V.  ■ Von Claudia Wahjudi

Durch den nächtlichen Regen flackern bunte Lämpchen, die jahrzehntealte Lettern nachziehen: „Ihr Friseur“ leuchtet es in sauberer Schreibschrift über der verlassenen Kronenstraße. Nur eine einsame Radlerin schiebt sich durchs Dunkel, stellt ihr Fahrzeug unter dem Birnengewimmel ab und verschwindet in der Tür, um drinnen als Schatten vor den roten und blauen Scheinwerfern zu erscheinen. Die Uhr im Schaufenster zeigt fünf vor sieben, es ist Mitternacht.

Noch ist es im Friseur, dem Vereinsraum der Botschaft e.V., still, noch werden die Gläser für die beginnende Nacht gespült. Direkt um die Ecke jedoch, im Elektro, das regelmäßig mit der Botschaft kooperiert, herrscht schon rege Geschäftigkeit. Vier Männer machen sich hier am Tresen zu schaffen. Einer legt am Mischpult Platten auf, ein anderer sucht den Flaschenöffner und der dritte reicht ein T-Shirt über den Tisch, das ein vierter kaufen möchte. Schließlich kommt ein bärtiger Stammgast hinzu und zeigt seinen Fund aus einem Müllcontainer: Grimms Märchen in Einzelbänden und einen ungarischen Liebesroman für die Jugend. Wie Grüße aus vergangenen Zeiten, so liegen die Bücher auf dem Tresen – denn das Elektro steht ganz im Zeichen des High-Tech. Geschichten und Informationen werden im Erdgeschoß des besetzten Hauses via Disketten oder Video, als Musiktapes oder kopierte Kunst-Zines gehandelt. Streng durchnummeriert warten die Artikel im Regal auf Interessenten, welche die Produkte der Elektro- Discjockeys Bym, Mo und Cle oder von Musikern wie Alexander Christou mit nach Hause nehmen wollen. Zwischen den ganzen Datenträgen stehen Kartons mit Aufdrucken großer Elektronikfirmen und verhüllen die T-Shirts der Club-Kollektion, alle bedruckt mit den Logos von Panasonic, Microsoft und PanAm. Große Leuchttafeln an den Wänden des Elektros zeigen dieselben Zeichen. In den Kunst-Werken ist derzeit die passende Installation von drei Mitarbeitern des Friseurs und des Elektros zu sehen. Logos schließlich zieren auch die lasergedruckten Zettel, mit denen die beiden Veranstalter auf ihre gemeinsamen „Connected Parties“ hinweisen. Mit Kabeln werden dann die Auftritte der DJs hier quer über den Hof ins Friseur gespielt und dort live auf Video abgemischt. Wenn die Renovierungspause des Elektro am 6.August abgeschlossen ist, soll mit einer weiteren Gemeinschaftsparty neu eröffnet werden, geöffnet ist dann von Donnerstag bis Sonntag.

Auch in dem ehemaligen Frisiergeschäft ist es mittlerweile voll geworden. Programm findet heute nicht statt. In den verknautschten Sesseln und Sofas sitzen die Mitglieder der Botschaft e.V. im Gespräch mit ihren Gästen. Diskussionen gehen allen Veranstaltungen des gemeinnützigen Vereins voraus. Sechs ABM-Stellen, ein kleines Equipment aus dem Fundus der Arbeitsplatzausstattung und das mietfreie Büro stehen der Botschaft in diesem Jahr noch zur Verfügung, um ihre offenen Konzepte zu realisieren. Organisation und Inhalte sind nicht voneinander zu trennen. Die fünfzehn Künstler, Filmemacher, Musiker, Informatiker, Kommunikationswissenschaftler und Elektriker verfolgen neben der Arbeit an der Botschaft ihre eigenen Projekte, multidisziplinär sind deshalb auch die gemeinsamen Veranstaltungsreihen ausgerichtet. Hatten 1990 Künstler, Besetzer und Architekten auf dem Mehrtagesspektakel „Dromomania“ die Stadtplanung in Mitte thematisiert (und damit Anlaß zur Gründung der Botschaft gegeben), stand 1992 beispielsweise das Phänomen „Dokumentation“ im Mittelpunkt einer Ausstellung und der folgenden Filmreihe. In diesem Frühsommer beschäftigte sich die Botschaft mit den Erscheinungsformen der Energie in Informationstechnik und Umweltforschung, ein Spezialist informierte gar über Herzschrittmacher. In diesen umfangreichen Programmen wird das Medium Computer zum Thema; auch die Botschaft selbst ist Thema der Botschaft. Für die Ausstellung „Kollektive Projekte“, die der Berufsverband Bildender Künstler in München zeigte, recherchierte der Verein seine eigene Geschichte nach soziologischen Rastern. Auf transparenten Repros in den Ausstellungsraum gehängt, referierten Text und Bild die Gruppendynamik bei der Projektrealisierung sowie das Verhältnis von Planung und Ergebnis zu den Arbeitsprozessen. Die Präsentation verzichtete auf auf eine Auswertung, aber sie machte deutlich, daß sich die Botschaft als „situationsbedingte Aktionsgemeinschaft und nicht als homogenes Kollektiv“ begreift.

Von der Wissenschaftlichkeit ist an diesem Abend im Friseur wenig zu spüren. Wer zufällig vorbeigekommen ist, staunt bei einem Bier über die alte Einrichtung, über Hinweisschilder und Trockenhaube. Draußen scheppert eine monotone Textcollage durch den Regen. Von diesem Trübsinn ist drinnen nichts zu merken.

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