: London Underground: John Majors Terrorbande Von Ralf Sotscheck
Wer sich in London zu einer bestimmten Uhrzeit verabredet, gilt bei den Einheimischen als hoffnungsloser Optimist, der vermutlich auch an sechs Richtige im Lotto glaubt. Leute, die sich in der englischen Hauptstadt auskennen, geben bei jeder Verabredung mindestens vier Alternativtermine an. Grund für den Verabredungsstreß ist Londons legendäres, aber völlig veraltetes U-Bahn-Netz. Es vergeht kein Tag, an dem nicht Streckenabschnitte wegen technischer Pannen lahmgelegt werden. Funktioniert die Technik ausnahmsweise, dann treiben sich Selbstmordkandidaten auf den Schienen herum.
Als ich vor kurzem von Richmond nach Victoria fahren wollte, hielten die potentiellen Selbstmörder offenbar auf diesem Streckenabschnitt gerade ihre Jahreshauptversammlung ab: viermal kam der Zug zum Stehen, und Angestellte von „London Underground“ suchten jedesmal unter dem Zug nach Überresten. Mit 70 Minuten Verspätung erreichte der Zug schließlich die Victoria Station.
Seit vergangenem Jahr muß das Transportunternehmen allerdings für jede Unpünktlichkeit blechen. Im Zuge seiner Wahlkampagne hatte Premierminister John Major versprochen, die staatlichen Dienstleistungsbetriebe „bürgerfreundlicher“ zu machen. Das premierministerliche Wahlgeschwätz kostete „London Underground“ im vergangenen Jahr 68.484 Pfund (ca. 175.000 Mark). Die Charta „Aiming Higher“ („Höher zielen“) – ein ziemlich idiotischer Name – legt fest, daß der Fahrpreis zurückgezahlt werden muß, wenn die planmäßige Fahrzeit um 20 Minuten überschritten wird. 1992 war das 28.000mal der Fall.
Man habe die selbstgesteckten Ziele in Hinblick auf Sicherheit und Zuverlässigkeit nicht nur erreicht, sondern übertroffen, frohlockte man bei der Untergrund- Gesellschaft dennoch. Die Anzahl der Gewaltverbrechen unter Tage sei nun schon im fünften Jahr hintereinander gesunken. Möglicherweise gehen die Gewalttäter inzwischen zu Fuß, weil auf die U-Bahn kein Verlaß ist.
Die Zahl von 28.000 Beschwerden über Unpünktlichkeit ist nämlich eine kolossale Untertreibung. Die meisten KundInnen wissen überhaupt nichts von ihrem Recht auf Fahrpreisrückerstattung, und den anderen ist der Aufwand für die paar Pence zu groß. Eine Umfrage des Guardian hat ergeben, daß die Passagiere, die Tag für Tag zur „Rush-hour“ in die engen Züge wie Schweinsabfälle in die Wurst gepreßt werden, alles andere als zufrieden sind. Sie klagen über zu hohe Preise, stinkende Züge und verdreckte Bahnhöfe – am meisten jedoch über die ätzende Unpünktlichkeit.
Der von Kenntnis der Lage völlig ungetrübte Geschäftsführer des Transportunternehmens, Denis Tunnicliffe, hat jetzt trotzdem versprochen, zum Jahresende die Strafe für Unpünktlichkeit freiwillig zu verschärfen: Ab dann muß „London Underground“ schon bei Verspätungen von einer Viertelstunde zahlen. Sollte die Londoner U-Bahn dadurch das erste kostenlose Verkehrsmittel in Westeuropa werden? Einer meiner Mitreisenden nach Victoria bemerkte dazu: „Ist mir völlig schnuppe, ob sie den Fahrpreis zurückzahlen. Ich habe mir noch nie einen Fahrschein gekauft.“
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