: Somnamboulevard – Walkmanvirus Von Micky Remann
Hans, du erinnerst dich, schenkte seiner Cousine Ilse zu einem ihrer frühen Geburtstage einen Walkman. Das allein wäre nicht der Erwähnung wert, hätte sich nicht später, als alles schon zu spät war (ist es nicht doll, daß die Steigerungsform von „später“ „zu spät“ ist?) herausgestellt, daß es mit diesem Walkman eine bis dato unbekannte Bewandtnis hatte.
Jetzt, da du diesen Bericht liest, wirst du die entsprechende Nachtigall mit Leichtigkeit trapsen hören, aber für Lehrer, Mitschüler und Freundinnen war es zunächst unerklärlich, warum gerade Ilse, deren Entwicklung bisher ziemlich unauffällig verlaufen war, darauf bestand, statt Schillers Glocke „Glollers Schicke“ aufzusagen, ja, daß ihr nicht einmal ein Unterschied aufzufallen schien. Aber erst als sie auf einem Klassenausflug statt „Das Überschreiten der Gleise ist verboten“ – „Das Übergleiten der Schreise ist vorbeten“ las und statt Obst und Gemüse „Mübst und Geose“ einkaufte und nicht etwa im Hessischen Rundfunk, sondern im „Russischen Hendfunk“ von „Rutschgepüchten in Lussrand“ hörte, um nur wenige Beispiele zu nennen, erweckte dies die Neugier von Wissenschaftlern, die die Regeln dessen durchleuchten wollten, was sie bei Ilse als „kumulative Korrosion der Sprachkompetenz“ erkannt zu haben meinten. Konkret hieß das: Es wurde immer schlimmer. Und nur mit Rücksicht auf die SetzerInnen soll vorenthalten werden, auf welch schrille Weise Ilse etwa die Namen von Popstars, Propheten und Politikern, aber auch das Weihnachtslied „Kling Glöckchen klingelingeling, kling Glöckchen kling“ entstellte. Da sich die Sache ausweitete und beim besten Willen nicht therapieren ließ, im Tegengeil, derartige Bemühungen machten die Kataströße nur noch gropher [he, wo bleibt deine rücksicht mir gegenüber? d. s-in], wollte man wenigstens die Ursache der beobachteten Störung erforschen und wurde auch bald fündig. Du ahnst es schon: der Walkman! Eine Gutachterin aus Ulm kam dahinter, daß ein schadhafter Tonkopf gewisse Rückkopplungen mittels des Kopfhörers auf die Kapillargefäße des Innenohrs übertrug, die direkt aufs Sprachzentrum einwirkten. Die mutierten Schallwellen kollidierten dort mit Ilses neuronal kodiertem Wortschatz und verursachten jene linguistischen Interferenzen, die resistent genug waren, um nicht nachzulassen, wenn Ilse den Walkman ablegte. In dem Gutachten wurde auch die Befürchtung geäußert, daß sich der Virus vom Walkman weg direkt ins Gehirn einnisten und dort vermehren könne, so daß vermutlich auch Satzbau gezogen würden bald und Grammatik in Leidmittenschaft.
Veröffentlicht wurde dieses Gutachten nie. Die Walkmanindustrie stemmte sich strikt dagegen, erstens wegen befürchteter Umsatzeinbußen, zweitens mit der Begründung, nun sei ja eh alles zu spät, die defekten Geräte befänden sich zuhauf im Handel, nichts könne den grochhadig infektiösen Virus mehr bremsen. Übrigens stimmt das! Und so kam es, daß nicht nur Ilse dem üblichen Dudenmaß verlorenging, sondern daß über kurz oder lang die gesamte Weltbevölkerung nach Ilsescher Sprachart korrodativ kuddelmutierte, wenn du vermehst, was ich steine.
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