: „Ein rechtspolitischer Skandal erster Ordnung“
■ Gespräch mit dem Bremer Steuerfachmann Werner Kahrs über das aufgeblähte Steuersystem und dessen Verfassungswidrigkeiten
Das deutsche Steuerrecht ist gründlich durcheinander. Seit einigen Jahren fallen immer wieder Einzelregelungen vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Folge: Steuerbescheide sind in vielen Punkten nur noch vorläufig. Gleichzeitig denkt nicht mehr nur die Steuergewerkschaft über die ungeheuren Einsparmöglichkeiten nach, die in einer Entrümpelung der tausenden Steuervorschriften liegen. Allein wegen der mangelnden Fähigkeit der Finanzämter, die festgesetzten Steuern tatsächlich einzutreiben, gingen pro Jahr rund 100 Milliarden Mark verloren, so die Steuergewerkschaft.
Werner Karhrs ist Steuerfachmann beim Bremer Finanzsenator und gehört zu den Vordenkern, die zur Zeit in allen Bundesländern an Vorschlägen zur Vereinfachung des Steuerrechts arbeiten.
Steuerbescheide sind in vielen Punkten nur noch vorläufig. Was ist da los?
Das ganze Steuerrecht ist aus den Fugen. In wichtigen Teilbereichen wird das Steuerrecht verfassungsrechtlich angegriffen. Wenn das Bundesverfassungsgericht dann eine für den Bürger günstige Entscheidung trifft, hat aber nur der etwas davon, dessen Fall noch nicht rechtskräftig ist. Deswegen sehen wir uns vor einer Rechtsbehelfsflut ohnegleichen. Um diese Flut einzudämmen, erklären wir von vornherein alle Fälle mit verfassungsrechtlichem Risiko für vorläufig, halten also von Staats wegen die Fälle offen. Die Aufgabe der Rechtskraft auf einem für den Bürger aber ganz wichtigen Rechtsgebiet ist für mich ein rechtspolitischer Skandal erster Ordnung. Ich habe aber nicht den Eindruck, daß dies auch im politischen Raum so bewertet wird.
Wie kommt es dazu?
Das Steuerrecht ist völlig überfrachtet mit Detailfragen und Ausnahmelösungen, die in sich zwar sinnvoll sein mögen, das ganze System aber schließlich zusammenbrechen lassen. Einzelregelungen werden zunehmend für verfassungswidrig erklärt, weil sie nicht mehr durch ein klares System gerechtfertigt werden, sondern auch an der Vielzahl der Ausnahmeregelungen und Besonderheiten gemessen werden müssen.
Die Verunsicherung darüber, was überhaupt noch mit der Verfassung im Einklang steht, führt dann zu dieser Rechtsbehelfsflut. Wir hatten in Bremen früher durchschnittlich 20.000 Rechtsbehelfe im Jahr, jetzt liegt die Zahl bei 250.000.
Wogegen richten sich diese Widersprüche?
Gegen fast alles. Der Ausgangspunkt war, daß das Bundesverfassungsgericht gesagt hatte, die Kinderentlastung — also das Kindergeld zusammen mit den Kinderfreibeträgen — sei zu gering. Dies nicht nur in der absoluten Höhe, sondern unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung. Steuerbetrüger ohne Kinder seien steuerlich günstiger gestellt als solche mit Kindern. Im Anschluß an diese Entscheidung mit der sehr starken Betonung des Gleichheitsgebots kann man nun jeden Fall mit jedem anderen vergleichen und darin Ungerechtigkeiten entdecken. Und weil das Steuerrecht so hoffnungslos mit Ausnahmen und Unplausibilitäten überfrachtet ist, haben viele dieser reklamierten Ungleichmäßigkeiten durchaus Chancen vor dem Bundesverfassungsgericht. Außerdem wird das Steuerklima verdorben und damit der Staatsverdrossenheit, die ja in einer Demokratie großen Schaden anrichten kann, Vorschub geleistet.
Welche Bereiche im Steuerrecht sind zu kompliziert, welche brauchen Reformen?
Zunächst einmal: Es gibt Bereiche, wo man sich ein kompliziertes Steuerrecht ruhig leisten kann und soll. Und es gibt Bereiche, wo man das nicht sollte. Die Massenfälle, also normale Arbeitnehmerfälle, müßte man mit Pauschalierungen weitestgehend aus dem permanenten Einzelfalldialog mit dem Finanzamt rauskriegen. Sodann müßte man das ganze Steuerrecht flankieren mit einem Ausbau von selbstprüfenden Kontrollmöglichkeiten. Ein Bankgeheimnis in dieser Form dürfte es z.B. nicht geben. Man muß Querverbindungen schaffen können zwischen Finanzamt und Subventionsgebern beispielsweise, man muß Zahlungsflüsse transparent machen können. Dies ist aber aus Sicht des Datenschutzes sehr umstritten.
Ruhig ein wenig kompliziert, gegenüber dem jetzigen aber immer noch stark vereinfacht, könnte man sich ein Unternehmenssteuerrecht vorstellen. Denn das ist allein wegen der Auslandsbeziehungen so komplex, daß man ein ganz schlankes Steuerrecht hier gar nicht machen kann. Hier ist z.B. die Besteuerung der Personengesellschaften eine Spielwiese geworden, auf der sich die Virtuosität der Berater richtig austoben kann. Das sieht jetzt wohl auch der Gesetzgeber. Jedenfalls kommt schon das nächste Steueränderungsgesetz auf uns zu — das „Mißbrauchsvermeidungsgesetz.“ Der Entwurf scheint auf diesem Gebiet Einschränkungen zu wollen.
Im politischen Tagesgeschäft gibt es heiße Themen, kleine Lobby-Erfolge und Politiker mit „Rosinen“ im Kopf.
Wir arbeiten im Auftrag der Finanzminister zur Zeit daran, Vereinfachungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Im politischen Tagesge
Werner Kahrs: „Wir müssen aufhören, mit dem Steuerrecht Gesellschaftspolitik zu betreiben“Foto: Tristan Vankann
schäft gibt es eben hochgehandelte Themen, die im Rahmen eines Gesetzgebungspaketes dann so große Bedeutung haben, daß kleine Dinge einfach so mit durchlaufen. Die werden dann nicht problematisiert, weil niemand das Gesamtkonzept stören will. Dann kommt es zu solchen Rosinen und zum allgemeinen Kopfschütteln in der Fachwelt.
Ein Beispiel?
Das Dienstmädchenprivileg. Unter der Flagge „Schaffung von Arbeitsplätzen“ wird mit einem Freibetrag von bis zu 12.000 Mark begünstigt, wer in seinem Haushalt eine Haushaltshilfe mit Steuer und Sozialversicherung einstellt. Da muß man sich wirklich fragen, wie eine solche Belohnung steuerrechtlich zu begründen ist — insbesondere wenn man an den Personenkreis denkt, der überhaupt eine Haushaltshilfe in dieser Form beschäftigen kann. Solche Vergünstigungen lassen sich hoffentlich auch wieder leicht abschaffen.
Gibt es auch Beispiele für Vereinfachungen, die nicht so rosinenartig sind und eher Breitenwirkung hätten?
Ja, natürlich. Aber Breitenwirkung bedeutet auch, daß da politischer Zündstoff ist. So müßte man überlegen, die Kilometerpauschale für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte abzuschaffen und eine Entfernungspauschale einzuführen, die in der Höhe unabhängig vom benutzten Verkehrsmittel ist. An sich sind Fahrtkosten ohnehin eine Sache des einzelnen. Wenn ich im Umkreis von einem Kilometer um den Innenstadtbereich ein Haus kaufe, weile ich hier ar
hier bitte das Foto
von dem Mann im Flur
beite, dann kostet das natürlich viel mehr als ein Haus z.B. in Zeven. Ich bekomme aber keine Steuervergünstigung dafür, daß ich hier in der Innenstadt wohne, sondern bezahle noch dazu die höhere Grundsteuer. Aber die Fahrtkosten von Zeven werden als Werbungskosten steuerlich abgezogen. Ich habe kürzlich mit einem leitenden Richter vom Bundesfinanzhof gesprochen, der meine Meinung teilt, daß die Fahrtkosten steuerlich überhaupt nicht, also auch nicht durch eine Entfernungspauschale, berücksichtigt werden müßten. Gerade mit diesem Beispiel wird vielleicht jedoch deutlich, wie politisch schwierig hier Veränderungen sein werden. Wenn man Steuerrecht aber wirklich vereinfachen will, dann muß das die Richtung sein: Niedrige Steuersätze, und dafür möglichst wenig individuelle Abzugsbeträge. Das ist eigentlich inzwischen auch weitgehend Konsens. Aber im konkreten Fall fehlt es an der Kraft, das auch umzusetzen. Zum Beispiel das Job-Ticket: da wird also der öffentliche Nahverkehr gefördert. Im Zusammenhang mit der bevorstehenden Erhöhung der Mineralölsteuer wird auch die Kilometer-Pauschale für PKW-Fahrer erhöht. Was soll denn nun eigentlich gefördert werden? Am besten anscheinend alles gleichzeitig.
Nur entsteht daraus kein einfaches Steuerrecht — abgesehen davon, daß die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, die das Bundesverfassungsgericht immer mehr im Vordergrund sieht, ständig verletzt wird.
Was sind die Folgen einer Ver
fassungswidrigkeit?
Die Folgen sind unterschiedlich. Im Fall der Kinderentlastung ist so entschieden worden, daß auch für die Vergangenheit nachgebessert werden mußte, soweit die Fälle noch nicht rechtskräftig waren. Deshalb die große Flut von Rechtsbehelfen.
Das Verfassungsgericht kann aber auch sagen, wegen der Massenauswirkung und der Haushaltsausfälle wirkt die Entscheidung nicht zurück in die Vergangenheit. So hat es beispielsweise nur beim Grundfreibetrag entschieden, um etwas Zeit zu geben, das zu regeln.
Worum ging es bei dieser Entscheidung?
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, daß der Betrag, ab dem überhaupt versteuert werden darf, nicht niedriger sein darf als das sozialrechtliche Existenzminimum. Nun gibt es aber eine Vielzahl von Gestaltungen, mit denen das Einkommen beeinflußt oder von einem Jahr ins andere geschoben werden kann. Nehmen Sie z.B. eine Branche wie die Immobilienbranche, in der es immer wieder zu Steuersparmodellen kommt, die zu hohen steuerlichen Verlusten führen, während die ebenfalls hohen Gewinne steuerfrei sind. Da kommt es schnell einmal zu einem Null-Einkommen, ohne daß damit gesagt werden kann, daß der Eigentümer dieser Immobilien dem sozialrechtlichen Existenzminimum nahe ist. Nun kann man nicht einfach sagen, die Verfassungsrichter hätten dieses Problem übersehen. Dann würde man ihnen Grundkenntnisse im Einkommensteuerrecht abspre
chen. Was also wollten sie uns sagen? Vielleicht wollte das Verfassungsgericht den Weg zu einem einfachen und strikt an der Leistungsfähigkeit orientierten Steuerrecht weisen. Dann allerdings wäre vieles über Bord zu werfen damit das Einkommen eine Aussage über Leistungsfähigkeit und Existenzminimum gibt.
An was denken Sie?
Ein Beispiel, das weh tut: Der Sparerfreibetrag von 6.000 bzw. 12.000 Mark, gerade erst eingeführt, ist aus dieser Sicht völlig unvertretbar. Ich kann nicht 200.000 Mark auf dem Konto haben und mir 12.000 Mark Zinsen freistellen lassen, und gleichzeitig sagen, ich bin unter dem Existenzminimum. Ein anderes Feld ist die ohnehin chaotische steuerliche Wohnungsbauförderung.
Und die braucht Reformen?
Das wird — auch parteipolitisch — unterschiedlich bewertet. Wir in Bremen wollen die Wohnungsbauförderung sehr vereinfacht haben. Insbesondere treten wir für feste Subventionen ein, die entweder von den Baubehörden selbst ausgezahlt werden, oder, wenn es schon über die Steuer sein muß, als feste Abzugsbeträge. Wir halten es für ein Unding, daß die Höhe der staatlichen Zuschüsse vom individuellen Steuersatz des Interessenten abhängig sind. Auch das liegt auf der Linie, das Steuerrecht und die Steuerverwaltung freizuhalten von außersteuerlichen staatlichen Zielsetzungen. Wir müssen das Steuerrecht wieder darauf konzentrieren, Einnahmen zu erzielen und nicht Gesellschaftspolitik damit betreiben wollen.
Interview: Birgitt Rambalski
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