: Wiedervereinigung und Krankheit
■ Männer und Frauen in den neuen Bundesländern reagieren mit unterschiedlichen Krankheitsbildern auf die veränderten Anforderungen
Mit den Auswirkungen des „Vereinigungsschocks“ auf Art und Häufigkeit psychosomatischer Erkrankungen bei der früheren DDR-Bevölkerung befaßt sich seit Anfang 1992 eine Gruppe von Medizinern und Psychotherapeuten unter Federführung des Kasseler Professors für klinische Psychologie, Reinhard Plassmann.
Die Wissenschaftler gehen dabei von der Erkenntnis aus, daß zwischen seelischen Vorgängen und körperlichem Krankheitsgeschehen ein enger Zusammenhang besteht. Klassische psychosomatische Krankheiten sind zum Beispiel Magen- und Darmgeschwüre, Durchfall, Kreislaufstörungen sowie einige Hautkrankheiten und Allergien.
Plassmann und seine Mitarbeiter stützen sich vorwiegend auf Erhebungen und Einzelfallanalysen an der psychosomatischen Fachklinik im thüringischen Stadtlengsfeld. Die bisher vorliegenden Ergebnisse haben zwar noch nicht die Beweiskraft repräsentativer Untersuchungen, gleichwohl lassen sie interessante Trends und Muster erkennen.
Angesichts der großen sozialen Belastungen infolge der deutschen Wiedervereinigung sei es gerade erstaunlich, wie wenige Menschen in den neuen Bundesländern erkrankten, so Plassmann. Der Mediziner führt diesen Tatbestand auf einen ausgeprägten „Anpassungswillen“ der früheren DDR-Bevölkerung zurück: „Ein großer Teil ist fest entschlossen, die Anpassung zu schaffen.“ Daß diesem Bestreben jedoch Grenzen gesetzt sind, zeigen zwei Befunde der Arbeitsgruppe: Da ist zunächst die Beobachtung einer gravierenden Zunahme von schweren Eßstörungen bei Frauen (Anorexien, Bulimien). Die Häufung dieses Krankheitsbildes erklärt Margit Venner, leitende Ärztin an der Universität Jena, mit der grundlegend veränderten Rolle der Frau seit der politischen Wende: Mit dem Untergang der DDR sei auch „das Bild der gleichberechtigten, fest im Leben stehenden, voll berufstätigen Frau und Mutter den Bach der Geschichte hinuntergespült worden“. Wo früher Leistung und Tüchtigkeit im Vordergrund gestanden hätten, seien es heute Attraktivität und Verfügbarkeit als Sexualobjekt des Mannes. Auf diese Umkehrung der Werte reagierten jene Frauen mit einer Störung des Eßverhaltens, die bereits durch eine frühe psychische Fehlentwicklung prädisponiert seien. Durch den mittlerweile erfolgten Wegfall beruflicher und sozialer Sicherheiten würden diese Patientinnen auf ihre ursprüngliche Störung zurückgeworfen.
Neben der Zunahme von Eßstörungen verzeichnet Plassmann ein rapides Anwachsen verschiedener Formen von Angsterkrankungen. Es erscheint plausibel, dieses Phänomen als Verschiebung existentieller Ängste und Zukunftssorgen zu interpretieren. Einzelfallanalysen hätten ergeben, daß vor allem Männer im Alter zwischen Ende 40 bis Anfang 50 einen „katastrophalen Entwertungsschock“ erlebten, weil ihre früher einmal hochgeschätzte Qualifikation unter den heutigen Arbeitsmarktbedingungen nicht mehr gefragt sei. Begünstigt werde die Entstehung psychosomatischer Erkrankungen außerdem durch Verlusterlebnisse in bezug auf das bisherige Lebenswerk – wenn Betriebe geschlossen werden – sowie die soziale Isolierung infolge der Arbeitslosigkeit.
Die Studien verfolgen neben therapeutischen Zielen („Je besser wir die Krankheit verstehen, desto besser können wir damit umgehen“) auch den Zweck einer psychologischen Dokumentation in der gesellschaftlichen Umbruchphase. Plassmann merkt jedoch dazu kritisch an, daß es in dieser einmaligen Situation einer viel intensiveren forschungspolitischen Förderung bedurft hätte, um die vereinigungsbedingte „Krankheitslandschaft“ umfassend und gründlich zu erforschen. Axel Rehn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen