: Sich selbst erschaffen
■ Sportwissenschaftler Gunter Gebauer über Fitness, Körperplastik und Massenbäder
taz: Woher kommt diese fulminante Fitnesswelle?
Gebauer: Aus der früheren Konsumhaltung zum Sport ist ein aktiveres Verhältnis geworden. In den 50er oder 60er Jahren trat man einem Verein bei, mit dem man sich aus lokalpatriotischen Gründen verbunden fühlte, und pflegte vor allem die Vereinstreue. Man blieb eben bei Schalke 04. Heute ist das Sportinteresse viel leistungsbetonter. Sport hat Dienstleistungscharakter bekommen: man investiert und bekommt etwas zurück, nämlich die Möglichkeit, sich selbst zu erschaffen. Der französische Sozialwissenschaftler Pierre Bourdieu sieht Korrespondenzen zwischen sozialer Stellung und Sportart: Wer von der Deklassierung bedroht ist, wählt Sportarten, die „stämmig“ machen, wer aufsteigt, trainiert auf Wendigkeit.
Bodybuilding für die Unterschichten, Fitness für die Yuppies?
Die Fitnesswelle ist eindeutig ein Mittelschichten-Phänomen, eine neue Angestelltenkultur. Seit den 70er Jahren gibt es diesen technischen Appeal. Der Waldlauf heißt jetzt Jogging und ist mit teuren Reebok-Schuhen, Wärmeisolation und ausgetüftelten Stufenplänen verbunden. Ein eigener Diskurs gehört dazu, eine Diätform, eine bestimmte Lebensführung. Man muß zwischen dem alten und dem neuen Bodybuilder unterscheiden. Früher war das der Mann, den alle für den Schwächling hielten, bis er dann plötzlich die Mädchen aus seinem Viertel auf einer Hand tragen konnte. Heute ist die Stärke nicht so wichtig, auf die Plastik kommt es an. Was man selbst ist, soll taktil werden, soll sich materialisieren.
Hängt es damit zusammen, daß die Ausbildungen länger dauern als in den Sechzigern, man später seine Laufbahn antritt und dann versucht, die „mittleren Jahre“ zu verlängern?
Nein, ich glaube nicht, daß irgend jemand sich beim Joggen vorstellt, wie er wohl mit hundert aussehen würde — das wäre auch nicht so wahnsinnig ermutigend. Das hat eher mit einer generellen Veränderung der Lebensformen zu tun, in denen Selbstbestimmung und Autonomie wichtiger werden. Es geht darum, sich selbst zu machen, die eigene Körperplastik ändern zu können.
Verdrängen die individualistischeren Sportarten die kollektiven? Heimtrainer versus Volleyball im Tiergarten?
Es gibt interessanterweise beide Tendenzen gleichzeitig: Immer mehr Leute machen gefährliche Sportarten, Survival-Training, Fallschirmspringen, Triathlon, bei denen sie zwar im Moment allein sind, sich aber in Gesellschaft vieler anderer wissen. Das beste Beispiel ist der Stadtmarathon: Man ist allein mit sich, voll von der eigenen Lyrik, gleichzeitig sind Tausende neben einem! Natürlich reflektiert sich im Fitness-Boom auch eine veränderte Sozialstruktur: Leute, die früher Familiensport gemacht, Briefmarken mit anderen getauscht hätten oder in einen klassischen Sportverein gegangen wären, sind heute Singles.
Sie vergleichen das Leben der Spitzensportler mit dem der mittelalterlichen Mönche. Hat Fitness etwas mit Selbstkasteiung zu tun?
Es hat eher etwas mit der allgemeinen Lebensdevise der Mittelklassen zu tun: Ich muß hart arbeiten, um etwas zu bekommen. Die Liebe zur Askese sieht man vor allem bei den Yuppies, die sogar ein bißchen Stolz darauf sind, Workaholics zu sein.
Wie kommt es, daß taz-Redakteurinnen, die noch vor zehn Jahren Gruppensport als kryptofaschistisch verdammt hätten, heute Aerobic-Fanatics sind?
Es kann sich eben niemand dem Prozeß der zunehmenden Theatralisierung des Lebens entziehen, den man an allen öffentlichen Plätzen beobachten kann und der mit der größeren Bedeutung des Körpers einhergeht. In der Weimarer Republik hat es ja auch schon Intellektuelle gegeben, die ein positives Verhältnis zum Sport hatten: Brecht war von der Arbeiterkultur, in der Sport viel mit Bildung zu tun hatte, und der Leistungsfähigkeit beeindruckt, und der Mann ohne Eigenschaften, ein Privatdozent für Mathematik, hat einen Punchingball zu Hause.
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