: Kunst als Abenteuerspielplatz Von Ralf Sotscheck
Die freundliche alte Frau im Kassenhäuschen am Eingang des Londoner Kunstmuseums reicht das Wechselgeld über den Tresen und zeigt dann auf eine Tür am hinteren Ende der Halle: „Die Tonbandführung beginnt im Constable-Saal“, erklärt sie. „Dort hing früher unsere Gemäldesammlung von John Constable.“ Wir gehen in die Richtung, die sie uns gewiesen hat, und schalten das tragbare Tonbandgerät ein. Eine tiefe Männerstimme beschreibt detailliert etwa ein dutzend Gemälde des berühmten englischen Landschaftsmalers.
Doch das leuchtende Weiß der Museumswände wird nicht durch irgendwelche Gemälde unterbrochen – bis auf die kleinen Schildchen mit den Namen der Kunstwerke sind die Wände leer. Der benachbarte Saal – hier sei laut Tonbandstimme besonders der Gainsborough zu beachten – vermittelt einen ähnlichen Eindruck: keine Gemälde, sondern nur ein Schild, wo früher „Peasants Going to Market“ hing. „Es hat alles damit angefangen, daß Margaret Thatcher in den achtziger Jahren den Kulturetat drastisch zusammengestrichen hat“, sagt die Frau an der Kasse. „Zuerst konnten wir uns über Wasser halten, indem wir ein paar Gemälde aus dem Keller verkauften. Mitte der neunziger Jahre gab es dann die ersten Lücken an den Wänden. Wegen der hohen Fixkosten für das Museum mußten wir uns schließlich von weiteren Meistern trennen. Kurz vor der Jahrhundertwende ging dann das letzte Bild, ein Turner, an eine Privatsammlung in den USA. Dadurch hat sich unser Museum saniert, weil seitdem auch die Kosten für den Museumsdirektor entfallen. Im britischen Nationalmuseum sieht es übrigens genauso aus.“
Ein Alptraum, eine an den Haaren herbeigezogene Schreckensvision? Keineswegs. Für die staatlichen britischen Einrichtungen und privaten Museen geht es ums Überleben. Viele haben bereits begonnen, ihre Kunstschätze zu verhökern. Im März verkaufte die Erziehungsbehörde von Manchester über das Auktionshaus Sotheby's einhundert Kunstgegenstände, um Entlassungen zu vermeiden. Die Universität von Manchester verscherbelte gleich die komplette Bibliothek von John Ryland – der Erlös von 1,8 Millionen Pfund wird in die Forschung gesteckt. Die Londoner Universität kassierte von der Getty Foundation elf Millionen Pfund für Turners „Van Tromp Going About To Please His Masters“. Und die Universität Edinburgh versucht zur Zeit, einen de Vries und einen van Ruysdael meistbietend, aber unauffällig loszuwerden. Am konsequentesten handelte freilich das Thorburn-Museum in Cornwall: Auf Rat der Kunstbanausen vom Handelsministerium hat man die Hälfte aller Gemälde verhökert und das Geld statt dessen in einen Abenteuerspielplatz gesteckt. Das sei zukunftssicherer, meinten die staatlichen Kunsträuber.
Wer also die Kunstschätze in den englischen Museen bewundern will, muß sich beeilen. Warum soll es den Kulturinstitutionen auch besser gehen als den staatlichen Dienstleistungsbetrieben? Entweder sie bringen wenigstens die Kosten herein, oder sie werden zugemacht. Und wenn alles dicht ist, braucht man auch keine staatliche Eisenbahn oder städtische Busgesellschaft mehr.
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