: Ganz Zentralbosnien ist ein Kessel
Nicht nur die bosnisch-muslimische Bevölkerung in Mostar ist in höchster Lebensgefahr / Auch an die 200.000 Kroaten sind in Enklaven Zentralbosniens eingeschlossen ■ Aus Metković Erich Rathfelder
Endlich wurden die Hilferufe aus der Altstadt von Mostar gehört, endlich versuchen die internationalen Hilfsorganisationen, zu den von den Truppen des „Kroatischen Verteidigungsrates“ (HVO) und der serbisch-bosnischen Armee eingeschlossenen 55.000 Menschen in Mostar vorzudringen. Ein erster Konvoi von sieben Personentransportern der UN-Schutztruppen im ehemaligen Jugoslawien (Unprofor) konnte am Sonnabend die Stadt am Neretva-Fluß erreichen und eine symbolische Menge von Medikamenten abliefern. Für einen weiteren Konvoi, der mit 130 Tonnen Hilfsgütern beladen im kroatischen Zagreb bereit steht, verweigerten die Belagerer bislang die Durchfahrtsgenehmigung.
Jerry Hulme, der die Hilfsaktionen vom westherzegowinischen Medjugorje aus leitet, erklärte am Freitag, falls die kroatische Seite nicht willens sei, weitere Konvois durchzulassen, werde das UN- Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) mit den bosnischen Serben verhandeln. Diese hätten bereits ihre Bereitschaft angedeutet, eine Route von der Küste her für die UNHCR-Fahrzeuge zu öffnen.
Seitdem die Kämpfe zwischen der Bosnischen Armee und der HVO am 9. Mai intensiv aufflammten, sind die Altstadt Mostars und die Stadtteile auf der linken Seite des Flusses Neretva von der Außenwelt abgeschlossen. Im Osten von der serbisch-bosnischen Armee, im Westen von bosnisch- kroatischen Truppen bedrängt, sind seitdem keine Lebensmittel mehr in die Stadt gelangt. Es grenzt an ein Wunder, daß die Menschen ohne Elektrizität, ohne Wasserversorgung und ohne Lebensmittelzufuhr bisher überhaupt überleben konnten.
Schon im Juni dieses Jahres erklärten Unprofor-Sprecher, angesichts der Versorgungslage und des Wassermangels – die Bewohner Mostars holen ihr Trinkwasser aus der Neretva, können es aber aufgrund des Energiemangels nicht abkochen – sei die Lage verzweifelt. Krankheiten brächen aus, der Hunger würde Tausende hinwegraffen.
Daß die Lage sich etwas entspannte, ist einer militärischen Aktion zu verdanken. Ende Juni versuchten bosnische Truppen einen verzweifelten Ausbruchsversuch, der gelingen konnte, weil die meisten der Muslimanen, die bei der HVO gekämpft hatten, zur regulären Bosnischen Armee übergelaufen waren. Eine Vorstadt Mostars, Bjelo Polje, wurde erobert und damit ein Weg ins Innere Bosniens geöffnet. Da jedoch auch dort Hunger herrscht, hat sich an der Versorgung der Eingeschlossenen bisher nicht viel verändert.
Auch auf der rechten Seite der Neretva, im sogenannten „kroatischen Teil“ Mostars, ist die Lage alles andere als rosig. Die Bevölkerung leidet auch hier an Wassermangel und Lebensmittelknappheit. Immerhin gelangen Lebensmittel in den kroatischen Teil der Stadt, wo sie zu horrenden Preisen verkauft werden. Deshalb bleiben die Waren für die meisten Menschen auch unerschwinglich. Der letzte Hilskonvoi des UNHCR war am 14. Juni dorthin gelangt, obwohl es direkte Straßenzugänge gibt. „Die HVO wollte jedoch keine Unprofor-Truppen oder Mitarbeiter des UNHCR in der Stadt, nur zwei Helfern wurde es erlaubt, zu bleiben“, erklärte Hulme.
Der UN-Mitarbeiter widerspricht nicht der Deutung, daß dieser Umstand mit derzeit stattfindenden Repressionen gegenüber den Serben und Muslimen in Mostar zu tun hat. Nicht nur bei dem Hubschrauberlandeplatz, dem „Heliodrom“, sind Tausende von Männern, Frauen und Kinder interniert. Die nahe gelegenen Lager Dretelj und Gabela bei Čapljina, sowie das Lager bei Stolac, wo seit dem 1. Juli über 2.000 Menschen, vor allem ehemalige muslimanische Kämpfer der HVO, interniert sind, konnte nicht einmal das Rote Kreuz besuchen. In Čapljina selbst sind seit dem Wochenende einige Dutzend Menschen verschwunden, in der Nähe der ostbosnischen Stadt Brčko sind zwei kroatische Dörfer mit einer Bevölkerung von etwa siebentausend Menschen von Serben und Muslimanen eingeschlossen. Der Krieg in Zentralbosnien ist trotz aller Verhandlungen in Genf in den letzten Wochen noch grausamer geworden. Nicht nur die muslimanisch-bosnische Bevölkerung leidet, die Region ist seit Ende April von der Außenwelt abgeschnitten und deshalb selbst ein einziger großer Kessel. Somit ist auch die kroatische Zivilbevölkerung bedroht. In den verschiedenen kroatischen Enklaven sind um die 180.000 Menschen eingeschlossen, deren Überlebensbedingungungen denen der Muslimanen in Mostar ähneln. Im Zentralbosnischen Zepče sind 35.000 Kroaten eingeschlossen, die ihrerseits wiederum zusammen mit den serbisch-bosnischen Streitkräften einen Ring um einige zehntausend Muslimanen errichtet haben.
In Tesanj dagegen sind etwa 30.000 Kroaten und Muslimanen von Serben eingeschlossen und kämpfen nach wie vor gemeinsam gegen diesen Feind. Eine noch größere kroatische Enklave bilden die Städte und Dörfer von Novi Travnik über Vitez bis nach Busovaća, wo 50.000 bis 80.000 Kroaten von der Außenwelt abgeschnitten sind. Innerhalb dieses Kessels wiederum sind Tausende von Muslimanen von der HVO eingekreist. In Kresevo, Kiseljak und einem Teil Fojnićas sind 20- bis 30.000 Kroaten von der Außenwelt abgeschnitten. In die 10.000-Einwohner-Stadt Vareš sind 12.000 Kroaten aus Kakanj geflüchtet. Der neuste Kessel wurde am 25. Juli in Bugojno gebildet, wo 4.000 Kroaten im Zentrum von der Außenwelt abgeschnitten sind.
Viele Dörfer in der Umgebung der Stadt wurden durch Truppen des „Muslimischen Verteidigungsrates“ (MOS) – der 7. Brigade der bosnischen Armee – von kroatischen Zivilisten „gesäubert“. Vor allem die MOS-Truppen gehen zeitweilig grausam gegenüber der kroatischen Zivilbevölkerung vor. Seit Anfang Juni ist es einer zunehmenden Zahl von Freiwilligen aus islamischen Ländern gelungen, ins bosnische Zentralland zu gelangen. Konnte bis dahin von 300 sogenannter Mudschaheddin ausgegangen werden, so habe sich ihre Zahl seither vervielfacht, heißt es aus bosnischen Quellen. Am 27. Juli wurde in dem Dorf Doljani ein Massaker an 32 kroatischen Zivilisten verübt, bei dem nach kroatischen Angaben auch ausländische Freiwillige mitgewirkt haben sollen. Am 16. August sollen 43 kroatische Zivilisten in dem Dorf Kiseljak bei Zepče ermordet worden sein.
Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt hat zwar noch nicht alle Städte und Landstriche Zentralbosniens erfaßt. Doch fällt es der bosnischen Regierung immer schwerer, ihr Versprechen, keine Exzesse zuzulassen, einzuhalten. Die Lage ist derart unübersichtlich geworden, daß die internationalen Hilfsorganisationen überfordert sind, Hilfskonvois in alle diese Enklaven zu schicken.
Und die westherzegowisch-kroatische Seite versucht, ohne die eigenen Verbrechen zuzugeben, die Wut der kroatischen Zivilbevölkerung propagandistisch gegen alle Muslimanen zu lenken. Sowohl die bosnischen Flüchtlinge in der Westherzegowina als auch die dort alteingesessenen Muslime sind unter einen massiven Druck geraten, der auch Terror genannt werden kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen