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„Sie machen mit uns, was sie wollen“

UN-Schätzungen zufolge werden über 10.000 Muslime in kroatisch-herzegowinischen Lagern gefangengehalten / Angehörige bemühen sich um Visa für das Ausland  ■ Aus Čapljina Erich Rathfelder

Als sich die Stahltüren der im Untergrund liegenden Hangars öffneten, kletterten müde und ausgemergelte Gestalten heraus und blinzelten in das gleißende Sonnenlicht. Offensichtlich waren die Gefangenen das Tageslicht nicht mehr gewohnt. Sie benahmen sich, als seien sie blind, vor allem jene, denen man angesichts ihrer Magerheit und ihrer hohlen Wangen ansah, daß sie schon länger in den Hangars festgehalten waren.

Zum ersten Mal war es am letzten Dienstag Journalisten erlaubt worden, das Lager von Dretelj – einem Vorort der Stadt Čapljina – zu besuchen. Hier in Dretelj, das kaum 10 km von der Frontlinie zwischen den inzwischen verfeindeten Armeen der kroatisch-westherzegowinischen HVO und der Bosnisch-Herzegowinischen Armee (BiH) entfernt liegt, sind seit dem 1. Juli 1993 über Tausende von Menschen unter unwürdigen Bedingungen gefangengehalten worden. Heute sollen es noch 1.428 sein. Freigelassene Gefangene sprechen sogar davon, daß es noch vor wenigen Tagen über 2.500 Gefangene gegeben habe.

Das Lager von Dretelj, das auf dem Areal einer ehemaligen Mine liegt und über fünf Hangars und zwei ehemalige Munitionsbunker verfügt, ist nicht das einzige, das von Kroaten für die hier in der Gegend ansässigen Muslimanen eingerichtet wurde. Auch in dem kaum 8 km entfernten Gabela sollen über 1.000 Menschen gefangengehalten werden – dort konnte am 2. Juli ein ZDF-Team drehen. Und im Lager von Rodoc, dem Heliodrom von Mostar, befinden sich immer noch 2.000 Menschen. Weiterhin sollen sich in dem an der Front zu den serbischen Streitkräften liegenden, 30 km entfernten Stolac zwei Lager befinden, zu denen auch vom Roten Kreuz noch kein Zugang geschaffen wurde. Sprecher der UNO-Hilfsorganisation UNHCR vermuten sogar, daß mehr als 10.000 Gefangene in den Lagern der kroatisch-westherzegowinischen „Republik“ Herceg- Bosna festgehalten werden.

Was die Gefangenen zu erzählen haben, erinnert an die Praktiken in deutschen KZs während der Naziherrschaft und dem Archipel Gulag in der Sowjetunion. Obwohl es nicht erlaubt war, mit den Reportern direkt zu reden, sondern nur über einen Dolmetscher kommuniziert werden durfte, erklärten manche dennoch freimütig: „Sie machten mit uns, was sie wollten.“

Die meisten Männer haben während der Zeit der Haft 10 bis 30 Kilo an Gewicht verloren. Am Anfang ihrer Leidenszeit sei ihnen von den Wachmannschaften routinemäßig Trinkwasser verweigert worden. Daß die Bedingungen allen internationalen Regeln Hohn sprechen, bestätigte auch ein Angehöriger der kroatischen HVO, der, als er letzte Woche versuchte, wenigstens die Türen eines Hangars zu öffnen, um Frischluft für die Gefangenen hereinzulassen, von anderen Angehörigen der Wachmannschaften daran gehindert wurde. „Ich konnte als Einzelner nichts tun, um den Leuten zu helfen, die Kollegen hätten mir glatt eine über die Rübe gegeben“, erklärte er.

Noch drastischer fallen die Erzählungen von Gefangenen aus, die am 23. August aus den beiden Lagern Gabela und Dretelj entlassen wurden, um an die Demarkationslinie in der zentralbosnischen Stadt Jablanica gebracht zu werden. Die 450 Männer mußten sich bis auf die Unterwäsche ausziehen und wurden unter Maschinengewehrsalven durchs Niemandsland gejagt. Zuvor, in den Lagern, hätten sie wegen des Wassermangels den eigenen Urin trinken müssen. Latrinen habe es nicht gegeben. Einmal hätten betrunkene Wachsoldaten einfach in die Bunker geschossen und dabei dreißig Gefangene verwundet. Erst als der Besuch eines Rot-Kreuz-Vertreters angekündigt war, seien die Wasser- und Essensrationen erhöht worden. In der Tat ist es dem Chef des Roten Keuzes, Claudio Barasini, gelungen, nach Gabela zu gelangen und wenigstens „dafür zu sorgen, daß es ein paar Decken und Zahnpasta für die Gefangenen“ gibt, wie er sagt.

Dem Roten Kreuz war die Existenz der Lager schon seit Anfang Juli gekannt. Denn die Lager wurden am 1. Juli eröffnet, nachdem einige Hundert muslimanische HVO-Soldaten auf die Seite der Bosnsichen Armee übergelaufen waren. In den Bezirken Mostar, Čapljina und Stolac, wo seit April letzen Jahres Muslimanen und Kroaten gemeinsam in der kroatischen HVO gegen die bosnisch- serbische Armee kämpften, wurden daraufhin alle muslimanischen Soldaten in der HVO verhaftet. In den nächsten Tagen erfolgte die Verhaftung aller wehrfähigen Männer zwischen 18 und 60 Jahren. In dem Lager in Rodoc (Heliodrom von Mostar) sollen auch Frauen und Kinder eingeliefert worden sein.

Im August entwickelte sich ein systematischer Terror gegen die Familien der Verhafteten. Viele Frauen und Kinder mußten ihre Wohnungen verlassen und wurden, wie in Mostar, auf die östliche, von Muslimanen gehaltene Seite der Neretva abgeschoben. In Čapljina und Stolac versuchten die Frauen verzweifelt, Einladungen aus dem Ausland zu erhalten, um Durchreisevisa durch Kroatien zu erlangen und in ein anderes Land weiterreisen zu können. Da die Anträge auch für die Männer gestellt wurden, ist es in Einzelfällen sogar gelungen, die Entlassung von Gefangenen und ihre Ausreise zu erreichen.

Daß es dem Roten Kreuz und den Journalisten endlich gelang, in die Lager eingelassen zu werden, hat offenbar mit einer politischen Machtverschiebung in der Führung der selbsternannten Republik „Herceg-Bosna“ zu tun. Denn mit dem Berufsoffizier Slobodan Praljak ist Mitte August ein Offizier der kroatischen Armee zum Oberkommandierenden der HVO bestellt worden. Und Praljak war es, der den Journalisten erlaubte, die Mauer des Schweigens um die Lager in der Region Capljina zu lüften. Da auch der kroatische Präsident Franjo Tudjman in einem Brief an den Präsidenten der selbsternannten Republik „Herceg-Bosna“, Mate Boban, diesen dazu aufforderte, „...das Kriegsrecht ...“ zu wahren und die Gefangenen human zu behandeln, scheint diese Aktion auch von Zagreb gutgeheißen. Außerdem forderte Tudjman Boban auf, den Zutritt des Roten Kreuzes in alle Lager zu garantieren.

Offenbar hat der kroatische Präsident damit auf Vorhaltungen aus dem Aus- und Inland reagiert, Kroatien verlöre durch die Behandlung der Gefangenen an internationalen Sympathien. „Uns muß es gelingen, die Kroaten vor dem Kroatentum zu bewahren“, hatte ein österreichischer Diplomat schon vor Wochen erklärt.

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