■ Der Haushaltsdebatte fehlen Befreiungsschläge
: Zu satt, zu abgesichert, zu bequem

Ehe unsere Politiker das nächste Mal über die Politikverdrossenheit des Wahlvolkes räsonieren, sollten sie sich einmal ganz in Ruhe und mit etwas zeitlichem Abstand die Aufzeichnungen ihrer eigenen Haushaltsdebatte im Bundestag ansehen. Einstmals wurden anhand des Zahlenwerks Politikkonzepte entwickelt und gegeneinander ausgetragen, dann wurde der Regierung vom Parlament in Form des Haushalts der finanzielle (und damit auch politische) Handlungsrahmen als Gesetz vorgeschrieben. Um Konzepte aber ging es an keinem der drei Tage, die für die politische Generaldebatte vorgesehen waren. Wie immer will die Regierungskoalition an den Sozialetats herumstricheln und die SPD-Opposition genau das nicht. Ob man das eine nun als neoliberal denunziert, dem anderen unter dem Etikett „sozial“ wenigstens guten Willen zubilligt: Die Debatte wurde weder den wirtschaftlichen noch den sozialen Gegebenheiten des Landes gerecht.

Der Osten deindustrialisiert sich marktwirtschaftlich selbst; noch so hohe Investitionsförderungen haben daran, wegen der fehlenden Absatzmärkte, nichts ändern können. Nicht einmal der Bundesregierung ist das egal – aber warum spricht nicht einer der Parlamentarier wenigstens die Tatsache an, daß jeder sichere Industriearbeitsplatz im Osten zwangsläufig einen Arbeitsplatz (oder wegen der damit verbundenen Modernisierung auch zwei) im Westen kosten würde?

Auch im Westen wächst der sogenannte Sockel der Arbeitslosen weiter. Wie man ausreichend Arbeit schaffen kann, war dennoch kein Thema fürs Parlament. Die gesamte politische Klasse scheint sich offenbar damit abgefunden zu haben, daß es Arbeit für alle nicht mehr geben wird. SPD und Regierung unterscheiden sich heute nur noch darin, ob die fünf bis sechs Millionen chancenlosen Menschen schneller oder langsamer, je nach Höhe der Bundeszuschüsse für AB-Maßnahmen, zu den Sozialhilfeetats der Kommunen durchsacken.

Die Diskussion um das neue Deutschland und die Chancen seiner Gründungskrise wäre natürlich sehr viel einfacher, gäbe es irgendwo den großen Wurf, das Gesamtkonzept für Ganzdeutschland. Das mag erklären, daß die Parlamentarier an alten Ideologien festhalten. Aber wie befreiend wäre es, würde eine oder einer der Politiker aus der ersten Reihe endlich den Konsens der Reparateure durchbrechen und beginnen, die Fragen zu formulieren: Wie wird die Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig und schafft trotzdem noch Jobs für Niedrigqualifizierte, von denen die Leute, anders als in den USA, auch leben können? Wieviel Reichtum und Arbeitsplätze West transferieren wir nach Osten – und was passiert mit den Westverlierern? Wieviel Geld innerhalb des Sozialetats geht tatsächlich an die Armen, wieviel wird per Gießkanne an die wohlsituierte Mittelschicht verteilt (Kindergeld für alle etc.)? Was wäre eine sinnvolle Entlastung der Unternehmen, und wo fängt die Umverteilung zugunsten der Reichen an? Wie können flexiblere Arbeitszeiten aussehen, die nicht gleichzeitig die sozialen Standards hinwegfegen?

Jenseits alter Denkmuster zu diskutieren erfordert Mut, weil die Schläge zunächst von allen Seiten kommen. Von Parlamentariern aller Parteien, seien sie nun in der CSU, der PDS oder bei den Grünen, ist der leider nicht zu erwarten, denn sie sind offenbar genau das, was sie dem Wahlvolk vorwerfen: zu satt, zu abgesichert, zu bequem. Donata Riedel