Verwandlung eines Themas

Christa Lichtensterns Arbeit über die „Metamorphosen“ der bildenden Kunst  ■ Von Werner Köhler

Die „Metamorphosen“ des Publius Ovidius Naso gehören zu den unterhaltsamsten und einflußreichsten Werken der Weltliteratur. In den 15 Büchern des Epos schildert Ovid in überwältigender Vielfalt Geschichten von Verwandlungen: wie sich Daphne den Nachstellungen Apolls entzieht, indem sie sich in einen Lorbeerbaum verwandeln läßt; wie Juno die hundert Augen des Argus, nachdem Merkur ihm den Kopf abgeschlagen hat, an die Federn ihrer Pfauen heftet; wie die schwarzvioletten Früchte des Maulbeerbaumes aus dem Blut von Pyramus und Thisbe, des tragischsten Liebespaares der Weltliteratur, entstanden; wie Narziß, nachdem er die Nymphe Echo verschmäht, sich in sein Bild verlieben muß, stirbt, zur Narzisse wird; und und und ...

Dante, Petrarca, Chaucer, Ronsard, kaum jemand steht nicht unter dem Einfluß der „Metamorphosen“. Montaigne entdeckt in diesem Buch im Alter von sieben oder acht Jahren seine Lust am Text. Etliche Schriftsteller nehmen es auf: Milton, Goethe, schließlich Botho Strauß, der die „Fremdenführerin“ mit einem Ovid-Zitat aus der Argus-Episode beendet.

Auch die bildende Kunst hat sich fleißig der metamorphotischen Metaphernwelt angenommen. Das Mittelalter deutet die sinnebetörenden Geschichten allegorisch um. Im Figurenschmuck vieler bedeutender Kathedralen (Basel, Chartres) tauchen die tragischen Liebespaare Ovids wieder auf. In der Renaissance, in den Allegorien des Barock, immer wieder werden Episoden des Epos von Malern, Kupferstechern, Bildhauern illustriert. Die hervorragendsten Bilder von Tizian, Rubens, Poussin, Elsheimer widmen sich Themen aus den „Metamorphosen“. Berninis „Apollo und Daphne“ in der Galleria Borghese ist eines der berühmtesten Werke barocker Bildhauerei.

Daß die Metamorphose-Thematik noch und dazu in ganz anderer Weise in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts weiterlebt, ja sogar als ein „Leitthema der Moderne“ gelten kann, weist Christa Lichtenstern in ihrer umfassenden Untersuchung „Metamorphose. Vom Mythos zum Prozeßdenken“ nach. Der jetzt vorliegende zweite Band ihrer Habilitationsschrift verfolgt anhand von motivgeschichtlichen Untersuchungen und Interpretationen herausragender Einzelwerke von Christian Gottlieb Schick bis Joseph Beuys die Aktualität von Ovids „Metamorphosen“.

Lichtenstern sieht die Ovid-Rezeption im 19. Jahrhundert gegenüber der Zeit zuvor durch eine neue ästhetische Einstellung einschneidend verändert. Die Kunst um 1800 tritt ein in die Epoche ihrer Autonomie, das Kunstwerk dient mehr und mehr der Selbstreflexion des Künstlers.

Anhand einer ikonographischen Untersuchung der Narziß- Darstellungen von 1800 bis 1940 – die prominentesten Namen sind hier: Thorvaldsen, Schwind, Daumier, Klinger, Marées, Moreau, Masson und Dali – weist Lichtenstern nach, wie sich sukzessive das Narziß-Thema von der Selbstschau und Selbstdarstellung des Künstlers hin zu einer reflektierenden Darstellung der künstlerischen Mittel selbst transformiert. Dalis Vexierbild „Métamorphose de Narcisse“ inszeniert eine Metamorphose des Sehens, in der der Betrachterblick eine Verwandlung erfährt. Dieser Wandel des Metamorphose-Themas von einem „Künstlermythos“ zum „Kunstmythos“ wird insbesondere innerhalb der surrealistischen Ästhetik vollzogen. Lichtensterns ausführliche Diskussion verschiedener surrealistischer Techniken wie „dessin automatique“, Frottage und „biomorpher“ Formensprache macht dies deutlich. Im weiteren verfolgt sie dann die Wichtigkeit der surrealistischen Ästhetik für den prozessualen Malgestus des Informel und die Nachkriegskunst insgesamt bis hin zu Beuys.

Die Themenbreite des Buches verwirrt allerdings ein wenig und macht zudem mißtrauisch. Ein Künstlerindividuum folgt dem nächsten wie in einem Stafettenlauf, ohne daß sich die Einzelanalysen der Werke letztlich zu einer epochalen Gesamtschau verdichteten. Das Stigma der Beliebigkeit, das der Moderne insgesamt anhaftet und auch ihre Auseinandersetzung mit den Ovidschen Mythen prägt, dringt durch die Ritzen der aneinandergereihten Einzeldarstellungen Lichtensterns durch. Die Schilderung des verbindenden ideengeschichtlichen Hintergrundes, so oft seine Notwendigkeit von ihr auch beschworen wird, erscheint gerade im Kontrast zur Exaktheit der Einzelinterpretationen doch etwas dünn und pauschalierend geraten.

Ein Verdienst allerdings ist es, die Moderne unter Einschluß der Nachkriegszeit nicht abgekoppelt von ihren geschichtlichen Voraussetzungen – gerade auch vor 1800 – darzustellen, sondern immer präsent zu halten, daß ihre Wurzeln tiefer liegen und bis ins klassische Altertum hinabreichen. Ein großes Thema ist angesprochen, Anregungen weiterzudenken bietet das Buch in Hülle und Fülle.

Christa Lichtenstern: „Metamorphose in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts“. Band 2: „Metamorphose. Vom Mythos zum Prozeßdenken: Ovid-Rezeption; Surrealistische Ästhetik; Verwandlungsthematik der Nachkriegskunst“, VCH-Acta Humaniora, Weinheim 1992, 248 Mark