: Michael Stich spielt auch auf Kuhmist
■ Sie sind kein Freundesquartett mehr, sondern eine reine Interessengemeinschaft, siegen tun sie trotzdem - auch ohne Boris Becker: Das deutsche Davis-Cup-Team steht im Finale gegen Australien
Borlänge (dpa) – Vier Freunde sind sie nicht mehr. Fast denselben Erfolg wie das ehemalige Tennis- Kumpel-Quartett hat aber auch die neue Davis-Cup-Interessengemeinschaft. Zum fünften Mal nach 1970, '85, '88 und '89 steht eine deutsche Mannschaft im Endspiel. Michael Stich und Patrik Kühnen räumten in Borlänge am Samstag überraschend eindeutig das letzte Hindernis auf dem Weg ins Finale beiseite. Das im Davis-Cup noch ungeschlagene Doppel besiegte das schwedische Duo Anders Jarryd und Henrik Holm mit 6:4, 6:4, 7:6 (9:7) und sorgte damit für den entscheidenden dritten Punkt im vorweggenommenen Endspiel.
„Früher“, so bilanziert Teamchef Niki Pilić, „hatten wir um Boris Becker Spieler, von denen jeder 120 Prozent bringen mußte, damit wir gewinnen.“ Heute würde die gute Mischung aus starken Spielern dreier Tennisgenerationen den Erfolg ausmachen. Und früher, so konnte man zwischen den Zeilen herauslesen, habe Davis- Cup mehr Spaß gemacht. Pilić: „Heute habe ich manchmal den Eindruck, es geht um Leben oder Tod. Dabei ist es doch nur Sport.“
Der nächste Gegner auf dem Kriegsschauplatz rote Erde ist der 27malige Cupgewinner: Australien besiegelte ebenfalls am Samstag in Chandigarh mit einem Sieg von Mark Woodforde/Todd Woodbridge den Halbfinal-Erfolg gegen Indien. Das Endspiel steigt am 3. bis 5. Dezember.
Der Schlüssel zum Erfolg lag im zweiten Einzel. Edberg, der seit der Geburt seiner Tochter Tennis nicht mehr die Bedeutung zumißt, bewegte sich wie ein alter Mann. Marc-Kevin Goellner überrumpelte den Weltranglistenfünften mit seinem kraftvollen Grundlinienschlägen. Goellners Erklärung: „Ich konnte auf den Ball schlagen, ohne zu denken.“ Der zweifache Wimbledon-Gewinner Edberg gilt mit der mäßigen Einzelbilanz von nunmehr 24 Siegen und zehn Niederlagen ohnehin nicht als Davis- Cup-Größe. Dennoch war erstaunlich, wie unsicher er am Netz und an der Grundlinie agierte. Goellner, dessen privater Coach Andreas Maurer wie seine beiden Krankengymnastinnen auf der Tribüne saß, nutzte dies mit Powerplay von der Grundlinie konsequent aus. Nach 31 Minuten gehörte ihm der erste Satz, den Dämpfer im zweiten steckte er ebenso weg wie das verlorene Aufschlagspiel im vierten. Nervenstark konterte er bis zum Matchgewinn nach 2:24 Stunden Spielzeit.
Auch der 32jährige Routinier Anders Jarryd, der vor drei Wochen noch am Knie operiert worden war, konnte die schwedische Niederlage nicht aufhalten. Henrik Holm, in New York noch Erstrundenbezwinger von Stich, leistete sich zu viele Fehler. Ein Break zum 2:1 im ersten Satz und eines im siebten Spiel des zweiten, im dritten Durchgang ließen die Deutschen dann noch fünf Breakchancen aus, ehe sie den Erfolg im Tie- Break nach Abwehr eines Satzballes unter Dach und Fach hatten. Die schwedische Rechnung, auf Sand in der Halle alle Vorteile für sich zu haben, war wie 1988 im Göteborger Finale nicht aufgegangen.
Auch ohne Becker, über dessen Ambitionen, kann die Truppe von Niki Pilić nun zum dritten Mal die Mannschaftstrophäe gewinnen. „Ich will den Davis-Cup, das ist alles, was zählt. Daß wir hier eine so überzeugende Leistung geboten haben, verschönert das Ganze natürlich“, sagte Michael Stich. Der Elmshorner öffnete dann sogar die Tür für Becker, der in diesem Jahr im Davis-Cup nicht angetreten war: „Wenn er spielen will, würde ich sagen: Willkommen.“ Kapitän Niki Pilić sagte vorsichtig: „Wir haben ohne ihn begonnen, und ich denke, dabei werden wir bleiben.“
Derweil hat Becker andere Probleme als den Davis-Cup. Der dreimalige Wimbledonsieger hat den für heute geplanten Start beim Tennis-Turnier in Basel abgesagt. Der Weltranglisten-Dritte ließ sich durch seinen Rechtsberater Axel Meyer-Wölden in einem Telefax an den Veranstalter abmelden und begründete den Verzicht mit Fußproblemen. Ein Attest seines Arztes Hans-Wilhelm Müller-Wohlfart lag bei. Dieser bescheinigte Becker „orthopädische Beschwerden“. Diese Diagnose aber wurde ausgerechnet durch Beckers Masseur Waldemar Kliesing in Frage gestellt. „Er hat keine Fußprobleme“, sagte Kliesing, vielmehr sei, so Kliesing, eine „Verspannung der Rücken- und Oberschenkelmuskulatur“ für die Absage verantwortlich. Die Probleme seien beim Training in dieser Woche in Monte Carlo aufgetreten. Müller-Wohlfahrt habe Becker daraufhin im Fürstentum aufgesucht und Startverbot erteilt. „Wieso es jetzt heißt, er habe Fußprobleme, ist mir ein Rätsel“, sagte Kliesing.
Absagen wegen Krankheiten oder Verletzungen sind bei Becker nichts Ungewöhnliches. Vor Basel hatte er in diesem Jahr bereits die Turniere von Rotterdam, Indian Wells, Osaka und Tokio kurzfristig ausgelassen; außerdem die Turniere in Stuttgart (Halbfinale) und Key Biscayne (3. Runde) vorzeitig abgebrochen.
Gegen Australien, das mit den „Woodies“ das derzeit wohl beste Doppel der Welt aufbieten kann, aber mit Jason Stoltenberg und Wally Masur im Einzel schlagbar erscheint, sind die Deutschen nun Anfang Dezember klarer Favorit. Die Bilanz steht bei 3:1 für Australien, das letze Duell liegt allerdings 55 Jahre zurück. Damals unterlag Deutschland in Boston mit 0:5, ohne einen Satz zu gewinnen.
Der Deutsche Tennis-Bund (DTB) muß in den nächsten 14 Tagen den Austragungsort bestimmen. Da die großen Hallen in Dortmund, München, Stuttgart und Essen nicht verfügbar sind, sind Düsseldorf, Hannover und Bremen in der engeren Auswahl. Durchaus denkbar ist, daß erneut auf Sand gespielt wird: „Vielleicht ist die Farbe wieder rot“, sagte Pilić, der sich aber erst mit den Spielern besprechen wollte. Stich: „Ich spiele auch auf Kuhmist, wenn es für das Team gut ist.“
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