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Abgeordnete bleiben verbarrikadiert

Rußlands Präsident Boris Jelzin bleibt hart: Kein Kompromiß mit dem Parlament und keine zeitgleichen Wahlen / Spekulationen über Verhandlungen hinter den Kulissen  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Der Konflikt zwischen Parlament und Regierung in Moskau ging auch gestern weiter. In der Nacht zum Mittwoch war ein Polizist gestorben, nachdem er bei einem Handgemenge mit Demonstranten unter einen Wagen gestoßen wurde. Anhänger des aufgelösten Parlamentes, die sich vor dem abgeriegelten Parlamentsgebäude aufhielten, kamen bisher nicht zu Schaden. Auch eine Woche nach dem Präsidentendekret, das die Legislative auflöste, machten die Delegierten keine Anstalten, ihre verbarrikadierte Bastion zu verlassen. Ein angeblich von Jelzin verhängtes Ultimatum, das Gebäude bis gestern Mittag zu räumen, verstrich folgenlos. Es hat den Anschein, als würden derartige Meldungen vom Parlament selbst in Umlauf gesetzt, um die Situation zusätzlich zu dramatisieren. An einen Sturm des Weißen Hauses denke man nicht, so die offizielle Regierungsversion gestern.

Dennoch drohte Oberst Makaschow, einer der übelsten Scharfmacher, vom Balkon seiner Burg das Feuer zu eröffnen, sollten sich Sicherheitskräfte über eine bestimmte Entfernung hinaus dem Gebäude nähern. Weniger als 150 Abgeordnete halten sich nach Angaben verschiedener Quellen noch im Innern auf. Sie haben sich für alle Eventualitäten mit Gasmasken ausgerüstet, die ihnen auch ohne Notfall von Nutzen sind. Sie schirmen sich vorübergehend gegen ihre eigenen Ausdünstungen ab. Seit mehreren Tagen gibt es im Weißen Haus kein fließendes Wasser und keinen Strom. Die meisten Abgeordneten, anders als ihr ehemaliger Vorsitzender Chasbulatow, kamen nur mit einer einzigen Wäschegarnitur in die außerordentliche Sitzung des Kongresses.

Gerüchte zufolge fanden und finden hinter den Kulissen erneut Verhandlungen zwischen Ministerpräsident Tschernomyrdin und Gesandten des Parlaments statt, um dem unwürdigen Treiben ein Ende zu machen. Jelzin hält jedoch öffentlich an seiner Position fest: Zu Kompromissen gibt es keine Veranlassung, da die gegnerische Seite hemmungslos Absprachen unterlaufen hätte. Auch zeitgleiche Parlaments- und Präsidentenwahlen lehnte er kategorisch ab. Unter dem Vorsitz Nikolai Rjabows begann gestern offiziell die Arbeit der zentralen Wahlkommission.

Mit ziemlichem Befremden muß die weitreichende Interpretation der Menschenrechte des amerikanischen Außenministers aufgenommen worden sein. Er äußerte Bedenken, in Moskau könnten individuelle Rechte verletzt werden. Natürlich haben alle Menschen ein Recht darauf, sich zu waschen und eine Toilette zu benutzen. Den Abgeordneten steht es frei, einen anderen Abort aufzusuchen. Unbewaffnet allerdings.

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