: Versperrte Fluchtwege
■ Eine Berliner Bestandsaufnahme zum heutigen Tag des Flüchtlings / Mehrere hundert Abschiebungen seit 1. Juli
Lontis Ekustsho ist 13 Jahre alt. Monatelang lebte der Junge aus Zaire im Don Bosco Heim am Wannsee, einem Fürsorgeheim, in dem auch minderjährige Flüchtlinge untergebracht sind. Am vergangenen Samstag verschwand der Junge, jetzt sucht ihn die Polizei. Als Motiv für die zweite Flucht wird ein abgelehntes Asylbegehren vermutet. Den heutigen, bundesweit organisierten „Tag des Flüchtlings“ wird der Junge wohl in einem Versteck verbringen. Er wird nicht wissen, daß auch in seinem Namen der Flüchtlingsrat Berlin – ein Zusammenschluß von Menschenrechtsorganisationen, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Beratungsstellen – Anklage erhoben hat. „Im Namen der Flüchtlinge weltweit, ergeht Klage gegen die Gesetzgeber Deutschlands, der ihnen den Fluchtweg nach Deutschland versperrt oder sie aus Deutschland wieder abschiebt, wenn sie aus einem sog. Sicheren Herkunftsland oder über sog. Sichere Drittstaaten kommen“, schreibt der Flüchtlingsrat.
Seit Inkrafttreten des neuen Asylgesetzes am 1. Juli sind aus Berlin mehrere hundert Asylbewerber abgeschoben worden. Die Septemberzahlen hat die Innenverwaltung noch nicht veröffentlicht, aber im Juli waren es 156, im August 160 Menschen; die meisten von ihnen Roma aus Rumänien oder Bulgarien. Zum Vergleich: Ein Jahr zuvor wurden im Juli acht und im August zehn Menschen zwangsexpediert. Durch Sperrung der Grenzen und Zwangsabschiebungen hält die Stadt die Anzahl der Asylbewerber niedrig.
Trotzdem gelang es im August, einen Monat nach der „sicheren Drittstaatenregelung“, 1.071 Personen, sich in Berlin zu melden. Die meisten von ihnen verteilte die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber (ZAST) in die neuen Bundesländer, aber 284 durften vorerst bleiben, um ihr Anerkennungsverfahren in Berlin durchzuziehen, im September gar 317 Menschen. Weil aber seit dem 1. Juli im Schnellverfahren entschieden wird, ist anzunehmen, daß die abgeschobenen Personen zu der Gruppe von „Neuzugängen“ gehören. Dies bestätigte auch die Innenverwaltung. Dies heißt: Kaum einer hat eine Chance.
Der deutliche Rückgang von Asylbewerbern erschließt sich erst mit einem Blick auf die Vor-Juli- Zahlen. Von März bis Juli kamen insgesamt 4.300 Asylbewerber nach Berlin. Das heißt für die Stadt: Einsparungen in Millionenhöhe. Im letzten Jahr wurden 107,7 Millionen Mark Haushaltsmittel für die Unterbringung und Verpflegung von Asylbewerbern veranschlagt, in diesem Jahr 13 Millionen weniger, nächstes Jahr wird weiter gekürzt. Asylbewerberheime werden geschlossen, teils weil die Mietverträge regulär auslaufen, teils wegen Überkapazitäten. Bisher unterhielt das Landesamt für Soziale Aufgaben (LaSoz) 27.845 Heimplätze für Asylbewerber, Kriegsflüchtlinge und Aussiedler, ab Januar 1994 sollen es nur noch 21.122 Plätze sein. Von den insgesamt 120 Standorten sollen 31 für Asylbewerber geschlossen, die dort lebenden Menschen umverteilt werden. Dagegen protestieren sowohl Betroffene, wie etwa im DRK-Heim am Breiten Horn, aber auch 42 SchülerInnen der Fichtenberg-Schule in Lankwitz. Denn die Flüchtlingskinder seien in den nahen Schulen gut integriert, heißt es in einem Brief an das LaSoz, und es wäre „katastrophal“, wenn sie aus diesen „gewohnten Lebenszusammenhängen herausgerissen werden“.
Der Flüchtlingsrat Berlin wird den heutigen „Tag des Flüchtlings“ nicht mit Aufklärungsaktionen begleiten. Statt dessen hat er zwei Schiffe gemietet, um mit etwa 600 Flüchtlingen einen Tag auf dem Wannsee zu verbringen. Abfahrt 11 Uhr in Potsdam oder 12 Uhr am Wannsee. Private Bootsbesitzer sind eingeladen, die Dampferfahrt zu eskortieren und Geschenke mitzubringen. Weil es ein Überangebot an Politikern gibt, die den Wanderpreis „Das steinerne Herz“ verdienen würden, wird dieses „Symbol für Unmenschlichkeit“ um 14 Uhr an der Anlegestelle in Spandau versenkt. Anita Kugler
Siehe auch Seite 4
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