Short Stories from America: Dahinter unser Bill...
■ Über den amerikanischen Enthusiasmus und wie man ihn unter die Leute bringt
Die Schlagzeilen zum Nahen Osten waren in den letzten Wochen wahrhaft erhebend. Natürlich habe ich mich gefreut für die Einwohner dieser Weltgegend und über die Verheißung des Friedens, aber besser noch hat mir gefallen, wie glücklich die amerikanische Presse darüber war. Die Journalisten haben sich in Fotoserien und balkendicken Schlagzeilen gesuhlt wie Kinder in einem Nintendo-Laden, und alle waren so froh.
Wir wollen uns bei dieser Gelegenheit eines ganz besonderen Phänomens annehmen – des amerikanischen Enthusiasmus. Überschriften wie „Geheime Nahost-Gespräche könnten zu Einigung führen“ wurden ersetzt durch „PLO und Israel akzeptieren einander nach drei Jahrzehnten unnachgiebigen Kampfes“ (aus: The New York Times). Man denke: Sie akzeptieren sich, wie das Millionen Amerikaner in ihren Psychokursen lernen. Die sind ja ganz, ja wirklich ganz wie... wir. Tagelang lächelte das inzwischen berühmte Foto vom Händedruck zwischen Rabin und Arafat von Titelseiten und aus der Mattscheibe: der Israeli und der Araber Hand in Hand, dahinter unser Bill, der seine Arme um sie breitet. Wir alle sind eine Familie. Wie ich las, mußte Bill ein bißchen nachhelfen und Rabin anschubsen, bis der Arafats ausgestreckte Hand ergriff – das erinnerte mich an den Eheberater, der ähnlich einmal meinen Ex anschubste. Aber darüber kein Wort. Statt dessen werde ich die seltene Erscheinung würdigen, die man amerikanischen Takt nennt.
Trotz unzähliger Artikel über die Einigung zwischen Palästinensern und Israelis war kein einziger US-Journalist so taktlos, die eigentliche Leistung beim Namen zu nennen: Die israelischen und arabischen Führer haben den Vertrag mit ihren vollen Namen unterzeichnet. Es war taktvoll von der Presse, dies nicht besonders hervorzuheben, denn zehn Prozent der amerikanischen Erwachsenen könnten das nicht. Das ist beschämend für ein Land, dem das Können soviel bedeutet. Zehn Prozent der erwachsenen Amerikaner haben Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, heißt es in einer neuen Untersuchung des US-Erziehungsministeriums. Jeder zweite wäre unfähig, schriftlich eine fehlerhafte Rechnung zu beanstanden oder aus einem gedruckten Fahrplan die Dauer einer Busfahrt zu berechnen.
Als die New York Times von der Untersuchung des Erziehungsministeriums berichtete, mußten die Redakteure auf den Ausdruck „elementarste biographische Daten“ verzichten, weil sie nicht sicher sein konnten, ob ihre Leser so etwas verstehen.
Amerikanische Politiker sollten sich angesichts dieser Zahlen jedoch keine übermäßigen Sorgen machen. Die 40 Millionen Erwachsenen, die in ihrer Lesefähigkeit eine Stufe höher stehen als die eben erwähnten 44 Millionen, können höchstwahrscheinlich all das, was dort aufgezählt wurde. Sie können allerdings nicht den Inhalt eines kurzen Zeitungsartikels zusammenfassen oder gar eine Statistik lesen. Im Vertrag zwischen Rabin und Arafat gibt es keine Statistiken, deshalb brauchte sich die Presse auch nicht zu fragen, ob sie sie erwähnen durfte – allerdings gibt es darin Landkarten und Angaben über den Grenzverlauf.
Im North American Free Trade Agreement (Nafta), dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen mit Mexiko, finden sich sowohl Statistiken als auch Karten; es hat derzeit die größte Bedeutung für die amerikanische Wirtschaft. Aber zwei von fünf Amerikanern haben niemals von diesem Handelsabkommen gehört, wenn man Harper's Magazine glauben kann. Höchstwahrscheinlich liegt das daran, daß die Nafta-Verträge hauptsächlich in den Druckmedien behandelt wurden, die nur von der Hälfte der erwachsenen Bevölkerung gelesen und nur von einem Viertel kritisch gelesen werden können. Das ist ein Segen, wenn nicht gar eine Gnade.
Die Untersuchung des Erziehungsministeriums hat mir – außer dem selten auftretenden Takt der amerikanischen Presse – eine ganze Reihe von Fragen geklärt. Jetzt verstehe ich zum Beispiel den Widerstand gegenüber Clintons Plan zur Gesundheitsfürsorge. Kein Tag vergeht, an dem er nicht aus allen nur möglichen Gründen auseinandergenommen wird – außer aus dem wahren Grund: Niemand versteht ihn.
Der Bericht des Erziehungsministeriums hat mir auch eine kleine, verwirrende Meldung erklärt. Der Kreistag des Suffolk County im Staate New York will zur Identifizierung von Fürsorgeempfängern Fingerabdrücke statt ihrer Unterschriften verwenden. Die Gesetzgeber des Staates New York haben dem bislang nicht zugestimmt, weil auf diese Weise die Fürsorgeempfänger wie Kriminelle behandelt und in ihren Bürgerrechten und in ihrer Privatsphäre beeinträchtigt würden. Aber das Suffolk County besteht auf seinem Vorhaben, der eigenen Staatsregierung zum Trotz. Zur Rechtfertigung ihres Vorgehens behaupteten die County- Vertreter, mit Hilfe der Fingerabdrücke könnten sie Betrüger überführen und dadurch dem County Geld sparen, obwohl Betrügereien mit der Fürsorge vor allem von Ärzten und Vermietern verübt werden, und nicht von den Empfängern. Unklar blieb der wahre Grund für die Verwendung der Fingerabdrücke: Können die Fürsorgeempfänger ihre Namen nicht schreiben – oder die Angestellten des County sie nicht lesen? Marcia Pally
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