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„Wir glauben den Mädchen bedingungslos“

„Wildwasser“, die Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Mißbrauch, feiert ihren 10. Geburtstag mit bundesweitem Kongreß / Finanzknappheit und Gegenkampagne erschweren die Arbeit  ■ Von Sabine am Orde

Berlin (taz) – „Ich finde es nicht überraschend, daß es einen Rückschlag gab, aber daß er so spät und unqualifiziert kam“, sagt Psychologin Birgit Rommelspacher polemisch und zielt auf Katharina Rutschky. In ihrem Buch „Erregte Aufklärung – Kindesmißbrauch“ wirft Rutschky Wissenschaftlerinnen und Pädagoginnen vor, sie arbeiteten mit unseriösen, viel zu hohen Zahlen, wie etwa der Dunkelziffer des BKA, das die Zahl der sexuell mißbrauchten Kinder auf 300.000 jährlich schätzt. Rutschkys Buch sei eine „Orgie wahnhafter Unterstellungen“, die die Arbeit engagierter Frauen diffamiere, urteilt Birgit Rommelspacher.

Nicht nur sie bezieht gegen Rutschky Stellung. Auf dem dreitägigen Kongreß „Zehn Jahre Wildwasser“, zu dem bereits am Donnerstag rund 200 Frauen aus der ganzen Bundesrepublik in die Technische Universität in Berlin angereist sind, ist die Wut über diesen „Backlash“ zu spüren. Aber auch die Finanz- und die Stellenknappheit, die manche Projekte in ihrer Existenz bedrohen, kommen immer wieder zur Sprache.

Wildwasser Berlin, dessen Geburtstag hier gefeiert wird, ist das älteste und größte Projekt gegen sexuellen Mißbrauch in der Bundesrepublik. Heute gibt es nach seinem Vorbild bundesweit neunzehn Wildwasser-Projekte, zwei davon im Ostteil des Landes, in Magdeburg und Chemnitz. Bereits vor elf Jahren wurde die Idee einer Selbsthilfegruppe aus England und den USA importiert. Sechs Frauen taten sich zusammen, um über ihre Gewalterfahrung zu sprechen und das Schweigen der Gesellschaft zu brechen. Rund 120 Frauen kamen im März 1983 zur ersten öffentlichen Veranstaltung. Die erste Berufsgruppe entstand, der Verein wurde gegründet. Der Name stehe für Selbstbewußtsein und Autonomie: „Wildes Wasser macht, was es will“, sagt Wiltrud Schenk, Vereinsfrau der ersten Stunde.

Ein Selbsthilfeladen wurde eröffnet, 1987 begann die Arbeit der Mädchenberatungsstelle und Zufluchtswohnung als Modellprojekt, von Bund und Land gemeinsam finanziert. Heute betreiben 14 Beraterinnen und eine Verwaltungskraft eine Mädchenberatungsstelle im West- und eine im Ostteil der Stadt, einen Selbsthilfeladen und die Zufluchtswohnung, in der Platz ist für sechs Mädchen zwischen 12 und 18 Jahren. Inzwischen ist das Modellprojekt ausgelaufen, die Finanzierung der Stellen müsse nun immmer wieder neu beantragt werden, beklagt Vorstandsfrau Heidemarie Neunert: „Das gefährdet die kontinuierliche Arbeit.“ Auch die Streichungen der ABM- Stellen machen sich bemerkbar: Im Ostteil der Stadt sind die vier Stellen nur bis zum Ende des Jahres gesichert, in der Zufluchtswohnung ist die Rund-um-die-Uhr- Betreuung nicht mehr zu schaffen. Im März gab es wegen Überbelastung einen Aufnahmestopp, die Wohnung stand drei Monate leer. Auch die Beratungsstellen sind überfordert. „Monatlich haben wir 40 bis 60 Fälle, die wir nicht annehmen können“, klagt Beraterin Eva-Maria Nicolai. Nicht nur Berlinerinnen kommen, sondern auch viele Frauen aus Brandenburg.

Bei der Beratung ist Parteilichkeit das wichtigste Prinzip: „Wir glauben den Frauen und Mädchen, die wir beraten, bedingungslos“, sagt Wiltrud Schenk. Doch Birgit Rommelspacher, Professorin an der Fachhochschule für Sozialarbeit, fordert, dieses Prinzip zu überdenken: „Auch Frauen mißbrauchen ihre Macht über Kinder.“ Diese elterliche Macht müsse, wie auch andere Machtverhältnisse, in die Analyse miteinbezogen werden. „Wir müssen den feministischen Monopolanspruch auf Machterklärung aufgeben“, sagt Rommelspacher. Sonst bestehe die Gefahr, in ständische Interessenpolitik abzugleiten.

In zehn Jahren hat sich vieles verändert: „Die Mädchen werden immer jünger“, resümiert Eva-Maria Nicolai. „Heute kommen schon Dreijährige mit ihren Müttern.“ Ihnen stehen professionelle Beraterinnen zur Seite. Am Anfang bedurfte das keiner Ausbildung. Wiltrud Schenk: „Die eigene Betroffenheit war schon ein Stück Professionalität.“ Neben den Betroffenen werden auch Mütter, Freundinnen und Angehörige beraten. Die Arbeit mit den Tätern wird nach wie vor abgelehnt.

Nach einer Zeit steigenden Selbstbewußtseins wachse bei betroffenen Frauen und auch bei den Jugendämtern wieder die Verunsicherung, beklagt Selbsthilfefrau Lydia Sandrock. Dies sei eine Folge der „Diffamierung und Verleugnung“ durch die aktuelle Diskussion. Zwei Argumente setzen die Wildwasser-Frauen Rutschky entgegen: Einmal arbeite auch sie mit Schätzungen. „Woher will sie wissen, daß die Zahlen nicht sogar untertrieben sind?“ fragt Psychologin Rommelspacher. Breite Forschung, und keine „unseriöse und verantwortungslose Diskussion“, sei vonnöten. Außerdem müsse man unterscheiden, „ob Fachleute etwas überinterpretieren oder ob Kinder nicht die Wahrheit sagen“, meint Eva-Maria Nicolai. Letzteres komme kaum vor, gegen ersteres helfe nur Fortbildung. Doch die greife Rutschky eben an, weil sie Pädagoginnen angeblich „hysterisch“ mache. Dabei sei Fortbildung genau das, was gebraucht werde. Über Strategien gegen diesen „Backlash“ wollen die Frauen heute diskutieren.

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