: Sozialarbeit oder Gesinnungsbildung?
Eine feministische Einrichtung evaluiert sich selbst ■ Von Katharina Rutschky
In einer Gesellschaft, die jedes Problem an Spezialisten delegiert, war es wohl unvermeidlich, daß auch die sexuelle Mißhandlung von Kindern und Jugendlichen zur Spezialität besonderer Einrichtungen wurde. Weil das Problem als Politikum, nämlich als ein Strukturmerkmal heutiger Geschlechterbeziehungen, zuerst von Feministinnen vorgestellt wurde, waren sie auch die ersten, denen lange unumstritten ein Monopol auf die Definition und den Umgang mit ihm zufiel. Nachdem „Wildwasser“ 1983 in Berlin als Verein gegründet und seine Arbeit als Selbsthilfeeinrichtung für erwachsene Frauen aufgenommen hatte, verwandelte sich diese Einrichtung 1987 in ein Modellprojekt zur Arbeit mit sexuell mißbrauchten Mädchen im Alter von 0 bis 25 Jahren und ihrem Umfeld, Müttern und sogenannten Professionellen (Erzieherinnen, Lehrerinnen, Angestellte der Sozialen Dienste). Die Finanzierung der Beratungsstelle, einer Zufluchtswohnung und aller Mitarbeiterinnen (4 Sozialarbeiterinnen, eine Psychologin, eine Bürokraft und 2 1/2 Erzieherinnen) übernahmen der Berliner Senat und das Bundesministerium für Frauen und Jugend. Ebenso die Kosten für die wissenschaftliche Begleitung, die Christina Thürmer-Rohr (TU Berlin) oblag.
Der Bericht über die von „Wildwasser“ zwischen 1988 und 1991 geleistete Arbeit liegt nun vor und erlaubt endlich, die Stärken und Schwächen feministisch-parteilicher Sozialarbeit an einem Problem zu benennen, das es im Laufe weniger Jahre zu einer geradezu unheimlichen Popularität auch in allen Massenmedien gebracht hat, denen der Feminismus, schon gar in seiner Ausprägung bei „Wildwasser“, ziemlich schnuppe ist. Vorab ist festzustellen, daß die einzige vernünftige Chance, die in einem Modellprojekt steckt, nämlich mit qualitativen Methoden den Annahmen und Vermutungen nachzugehen, die man selbst über die Beschaffenheit eines Problems hat, etwa weil man selbst als Kind sexuell mißbraucht worden ist, daß diese Chance nicht wahrgenommen wurde. Nicht nur der Leser ist nach gut 400 Seiten so schlau, wie er es nach der Lektüre des bekannten Buchs von Kavemann und Lohstöter „Väter als Täter“ (1984) ohne Empirie auch schon hätte sein können; die Mitarbeiterinnen selbst scheinen ebenfalls in all den Jahren nichts dazugelernt, in der Auseinandersetzung mit 284 Einzelfällen keine Überraschung, nur eben die Mühen der Ebene und des Immergleichen erfahren zu haben. Wie ist das bloß möglich?
Eine kleine Abweichung vom Procedere halten sie in Zukunft aber doch für wünschenswert: Sie möchten in den Genuß einer Supervision kommen und auf die Hilfe einer Kinderärztin zurückgreifen können. Das ist nicht zuviel, eher zuwenig verlangt. Sollte das Projekt nicht eingestellt, sondern weitergeführt werden, wäre des weiteren an eine klinisch ausgebildete Psychologin und eine ebenso qualifizierte Kinderpsychiaterin mit breiter Erfahrung zur Aufstockung des Mitarbeiterinnenstamms zu denken. Die Mittel dafür wären nicht rausgeschmissenes Geld, sondern sehr weise angelegt.
Zurück zur Frage, wie es denn möglich sein kann, daß so hochmotivierte und engagierte Helferinnen wie die bei „Wildwasser“ so gar nichts Neues auf diesem erst in den letzten Jahren entdeckten Problemfeld „Sexueller Mißbrauch von Mädchen“ finden konnten.
Dankenswerterweise wird einem die Antwort schon auf den ersten Seiten leicht gemacht, wo der Rahmen abgesteckt wird, innerhalb dessen feministische Sozialarbeit sich der Probleme sexuell mißhandelter Mädchen anzunehmen bereit ist. Man erfährt dort, daß „Wildwasser“ keine sozusagen überkonfessionelle Einrichtung ist, die sich zum Wohl der Allgemeinheit und einzelner Betroffener eine Spezialaufgabe gestellt hat, wie Fernerstehende leicht vermuten. Nein, man bekennt sich dort zu einer Konfession, die als Parteilichkeit für Frauen und Mädchen gelebt und in Handeln für sie auch umgesetzt wird; denn wir leben in einer „Männergesellschaft“, in der Gewalt gegen Frauen und Mädchen nicht bloß vorkommt, sondern geduldet, verharmlost und mannigfach zum Nutzen der Herrschenden gefördert wird. „Parteilichkeit resultiert aus der Sicht auf die Betroffenheit aller Frauen, die in einer sexistischen Gesellschaft leben. Mädchen und Frauen werden mißbraucht, weil sie mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen ausgestattet sind oder sein werden (!) und diese als ausbeutbar dem Mann zur Verfügung stehen.“
Trotz aller Wünsche und Ziele, die in puncto Gleichberechtigung der Frauen heute noch nicht realisiert sind, wird manche Frau Schwierigkeiten haben, ihren richtigen Platz als potentielles Opfer in den so geschilderten „objektiven“ Gewaltverhältnissen zu finden. Die „Wildwasser“-Frauen haben ja sogar bei den realen Opfern von Gewalt, die bei ihnen vorsprachen, die Erfahrung machen müssen, daß die Uneinsichtigen vorherrschen. Sie wurden mit Lebensgeschichten, Erklärungsversuchen und Bewältigungsstrategien konfrontiert, durch die hindurch die Klientinnen erst mühsam zur Einsicht in den politisch-symptomatischen Charakter ihres individuellen Schicksals gebracht werden konnten. Oder auch nicht: Ein Siebtel der Beratungen wurde nach einmaligem Kontakt abgebrochen. Aber auch Mädchen, die blieben, scheinen widerspenstig gewesen zu sein. Wie sonst soll man sich den Satz im Vorwort erklären: „Die Beraterin kann nicht davon ausgehen, daß die Mädchen ihren Blick auf die Tat und den Täter teilen.“ Darf man ergänzen: noch nicht? und weiterfragen, was dann Inhalt und Ziel der helfenden Beratung war? Ganz Neugierige hätten vielleicht gern gewußt, wie denn im einen oder anderen Fall ein Mädchen Mißbrauch und Mißbraucher gesehen hat, ehe es seine Lehrstunden einzeln oder in der Gruppe absolviert hat. Zu denken gibt auch, daß von den 33 Mädchen in der Zufluchtswohnung sieben nach Hause zurückkehrten. Für vier von ihnen, so wird gesagt, bedeutete das, weiter mit dem Täter zusammenzuleben, zwei davon gar auf gerichtliche Anordnung. Daraus kann man zwar schließen, daß die Justiz noch nicht hinlänglich parteilich-feministisch aufgeklärt ist. Man kann aber auch vermuten, daß da, wo es um sexuellen Mißbrauch geht, nichts schwerer ist, als mit beiden Füßen auf dem Boden zu bleiben oder gegebenenfalls dahin zurückzukehren. „Wildwasser“ macht es diesbezüglich auch dem engagiertesten Kinder- und Mädchenschützer nicht leicht. Man unterscheidet dort zwischen „aufgedeckten“ Fällen und „vermuteten“, bei denen die Aufdeckungsarbeit noch zu leisten ist, wenn irgend möglich. Von keinem einzigen Fall wird berichtet – das ist das allerseltsamste Ergebnis der wissenschaftlichen Begleitung –, wo einmal einer Mutter oder einer besorgten Erzieherin ein Kleinkind als nicht mißbraucht zurückgegeben wurde. Rainer Balloff (in „Kinder vor Gericht“, München 1992) berichtet dagegen, daß von 59 Gutachten, die Familiengerichte zwischen 1988 und 1991 wegen des Verdachts auf sexuellen Mißbrauch bei einer Berliner Psychologenvereinigung in Auftrag gaben, immerhin sieben den Verdacht bestätigen mußten. Der nicht ganz unerhebliche Rest von 52 (in Worten: zweiundfünfzig) erwies sich als ungerechtfertigt. Man muß gegenwärtig leider damit rechnen, daß jedes Problemkind, jedes auffällige Mädchen mit der Modediagnose „sexuell mißbraucht“ bedacht wird und trennungswillige Frauen mit einem verständlichen Haß auf einen sehr konkreten Mann sich des Zeitgeistes zur Artikulation ihrer Wut bedienen. Sollte „Wildwasser“ weiter bestehen, muß die Beratungsstelle sich auf diese Aufgeregtheiten einstellen und sich trennschärfere Verfahren als bisher zur Unterscheidung der echten und falschen Fälle einfallen lassen. So drollig, wie sie ausschauen, gehören die anatomisch korrekten Puppen nicht in ein Zimmer, wo Kleinkinder diagnostiziert werden sollen. Auch der Idee, der man im Berichtszeitraum bei „Wildwasser“ noch anhing, Kinder, die noch nicht reden könnten, teilten sich statt dessen „symbolisch“ mit, zum Beispiel durch leicht dechiffrierbare Zeichnungen, sollte man Valet sagen. Böswillige Kritiker könnten den Bericht über die Aufdeckungsarbeit mit einer Zweijährigen (S. 221f) zum Anlaß nehmen, „Wildwasser“ jedwede Kompetenz im Umgang mit Kindern abzusprechen und darüber hinaus auch die Verläßlichkeit der Berichterstattung überhaupt zu bezweifeln. Diese Zweijährige soll nämlich nicht nur mit privatsprachlich-kindlichen Worten und Deckweiß und Klebstoff eine vaginale und orale Penetration, inklusive des mittlerweile notorischen „kotzenden“ Penis bekanntgegeben haben; nein, sie hat – ganz kleine feministische Widerstandskämpferin – auch „nein“ gesagt und ihren moralischen Abscheu lauthals kundgetan: „Papa Ferkel“. Das überfordert die Gutgläubigsten, zu denen ich noch nie gehört habe. Sollte ich auch hier raten, dann zur gründlichen Nachhilfe in Sachen Entwicklungspsychologie ... alle Abteilungen.
Aus vielen Gründen kommt kaum ein Mädchen auf eigene Initiative in die Beratungsstelle. Die Zulieferer sind Mütter und vor al
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lem sogenannte Professionelle, die auf einen Fall aufmerksam geworden sind. Wie die Verhältnisse genau liegen, habe ich nicht herausgefunden, weil die Berichterstatter eine Leidenschaft für Zahlen, insbesondere Prozentzahlen haben, die von den Zahlen selbst nicht erwidert wird. Warum Prozentzahlen, wenn die Gesamtheit der bearbeiteten Fälle bei 284 liegt, die Untergruppen daher in der Regel weit unter 100 bleiben? Nun, Zahlen wirken wie Fakten, Prozentzahlen wirken gar repräsentativ. Tatsächlich handelt es sich aber auch hier um Konstruktionen der Untersucherinnen. Sie können sich nicht damit herausreden, daß mißbraucht ist, wer sich mißbraucht fühlt, wenn sie anderswo die subjektive Sicht der Mädchen unterdrücken und durch die korrekte Sicht von „Wildwasser“ zu ersetzen versuchen. Die rein subjektive Sicht – in der Formel „Frauen und Mädchen wird geglaubt“ – kann ihren Ort nur in einer Therapie haben. Als Politikum taugt sie nicht.
Sei's drum. Wie wird denn nun bei „Wildwasser“ geholfen? Kann man den Zahlenspielen selten einen Sinn abgewinnen, so macht die Auswertung von Gruppengesprächen und Teamsitzungen einen allzu klaren. Vollinhaltlich wird nicht bloß von besonders gelehrigen Mädchen, die daher auch öfter zitiert werden, die Mißbrauchsauffassung von „Wildwasser“ bestätigt; des Lobes voll sind auch alle über die Art der Hilfe und den Erfolg, seien es Mädchen, Mütter oder Professionelle. Sehr merkwürdig! Es besteht kein Zweifel daran, daß bei „Wildwasser“ aufgrund der langen Monopolstellung und des hohen Bekanntheitsgrads schwere und schwerste Fälle sexuell traumatisierter Mädchen gelandet sind. Wo sind sie geblieben? Es kann ja wohl nicht sein, daß ein paar Beratungsgespräche und Ausspracheübungen in der Gruppe, ein Umzug in eine Jugendwohngemeinschaft oder in ein Heim alles ist, was man diesen Mädchen anbieten sollte. Die unheimliche Begeisterung für den sexuellen Mißbrauch als Ansatzpunkt parteilicher Mädchenarbeit in sexistischen Gesellschaften führt offensichtlich dazu, mit der Popularisierung des Verbrechens seine Trivialisierung in Kauf zu nehmen. Die, denen wirklich geholfen werden muß, laufen mit in der Masse derer, die schon ein bißchen Nachhilfe brauchen, um sich als Mißbrauchsopfer zu identifizieren oder überhaupt erst in angeleiteten Gruppensitzungen zu entdecken. Das psychopolitische Äquivalent zu Agitation und Propaganda heißt „Sensibilisierung“. Der Bericht evaluiert das Modellprojekt mit „sehr gut“. Aus meiner Sicht lautet das Urteil „mangelhaft“. Aber Leute, lest selber – daß niemand hinterher sagen kann, er habe nichts gewußt!
„Modellprojekt Beratungsstelle und Zufluchtswohnung für sexuell mißbrauchte Mädchen von Wildwasser – Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Mißbrauch an Mädchen e.V. Berlin“. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Frauen und Jugend, Bd. 10. Kohlhammer, Stuttgart 1993
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