: Bekenntnis eines Ungeheuers
Filmemacher in Sarajevo zeigen, was CNN noch nie sehen wollte. Eine Reportage von den Schneidetischen ■ von István Eörsi
Sarajevo, 17. September 1993, frühe Abendstunde. In einem Vorführraum habe ich mir Arbeiten junger Filmemacher aus dieser Stadt angesehen. Die besten experimentieren mit grotesken Tricks. Das ist eine bedeutende politische Errungenschaft. Wenn monatelang von den umliegenden idyllischen Bergen Granaten und Kugeln herabsausen, wenn die Bevölkerung auf das Knallen der Gewehre nur mit Magenknurren antworten kann, wenn ein unzählbares Leichenfeld diskret unter einer dünnen Bodenschicht verwest, wenn der Filmregisseur auf dem Weg zu den Drehorten wiederholt von Heckenschützen gezwungen wird, wegzurennen oder sich auf den Bauch zu werfen, dann eröffnet uns eine humorvolle Haltung gegenüber der Freiheit des im Belagerungsring eingeschlossenen und bedrängten Menschen ein Terrain, wo die Geschosse nach einer hinterlistigen U-Wendung in die Gewehrmündung zurückfinden.
Die Vorführung ist zu Ende. Ich sitze auf einer Bank vor dem Haus, in der Ecke eines hofähnlichen Raums. Mir gegenüber der Filmregisseur Ademir Kenović, ein sehr dünner, sehr langer, bärtiger Mann, ungefähr vierzig Jahre alt. Am Vortag habe ich rund ein halbes Dutzend Dokumentarfilme von ihm und seinen Schülern gesehen. Hauptheld von „Burned Legs“ ist ein Student, der in einem Sarajevoer Krankenhaus eine Arbeit annahm. Zu seinen Aufgaben gehörte es, die amputierten Körperteile zu einer Sammelstelle zu bringen. Die kleineren Stückchen machten ihm weniger zu schaffen, aber die größeren gaben ihm, wenn er den geschlossenen Korb trug, das Gefühl, sie könnten genausogut Brote sein. Dieser junge Mann stand in einem Park und monologisierte. Ich kann mir nicht vorstellen, sagte er, daß ich jemals wieder zu einem Konzert gehe. Er analysiert seine Gefühle, seine Arbeit, erzählt Fälle. Es war nicht zu übersehen, daß der verharmlosend als „Krieg“ umschriebene Genozid ihn aus der Bahn geworfen hat, sein gesamtes Leben unberechenbar, aber entscheidend beeinflussen wird. Er gab sich Rechenschaft über alles, woran er sich erinnerte, vielleicht auch darüber, warum er tat, was er tat. Doch daran kann ich mich nicht erinnern, und selbst wenn er davon gesprochen hat, war es unnötig, so selbstverständlich schien es, daß sein Platz der ist, den er einnimmt.
Anderswo steht ein einarmiger Halbwüchsiger. Verlegen lächelnd läßt er sich darüber aus, daß er vieles nicht mehr so gut machen kann wie früher, als er noch beide Arme hatte. Meine Schneebälle zum Beispiel, sagt er, taugen nichts mehr. Mit einer Hand den Schnee hart zu kneten, das ist schwer. Natürlich kann man den Körper zu Hilfe nehmen, sagt er und zeigt, wie er mit der rechten Hand die weiße Masse an sich drückt und preßt. Als der Schneeball auf diese Weise fertiggestellt ist, wirft er ihn verzagt – es ging, aber eben nicht so wie früher.
Ich sitze mit Kenović im Hofwinkel und gratuliere ihm zu diesem Film. Wie sich herausstellt, hat nicht er ihn gemacht, sondern sein Schüler Srdan Vuletić. Auch er bewundert die zuletzt erwähnte Episode. Mit Schreckensbildern sind die Zuschauer immer weniger zu schockieren. Massenmorde und Grausamkeiten haben in Sarajevo keinen Wert mehr. Bei ausgestochenen Augen verziehen sie keine Miene, aber für Schneebälle haben sie sich ihre Aufgeschlossenheit noch bewahrt. Jetzt verstehe ich, warum sein Film „Bekenntnis eines Ungeheuers“ so erschütternd ist: weil er uns die unerträglichen Greuel aus der Sicht eines Verbrechers zeigt. Kenović interviewte in einem Sarajevoer Gefängnis den zum Tode verurteilten Borislav Herak, geboren am 18. Januar 1971.
Herak ist ein Wesen mit kahlgeschorenem, länglichem Schädel, das langgezogene Gesicht nach unten schmaler und voller Pickel. Auf die Fragen antwortet er präzise, von Gefühlen verrät er nichts, Mitleid oder Verständnis wünscht er nicht einzuheimsen. Er berichtet, daß er zu Beginn seiner Ausbildung erst einmal Ferkeln die Kehle durchschneiden mußte. Wer dazu nicht imstande war, wurde zu Büroarbeiten eingeteilt. Er jedoch bewährte sich, und so mußte er einige Tage später sein frisch erworbenes Wissen an drei muslimischen Männern unter Beweis stellen. Auf ein Knie gestützt, demonstriert er mit einer knappen Handbewegung die Technik des Muslimschlachtens. Dann berichtet er über weitere Morde, über die Ausrottung von Familien, der auch Greise und Kinder zum Opfer fielen, dann kommt er auf eine in diesem Krieg ausprobierte Spezialmethode der ethnischen Säuberungen: wie er, gemeinsam mit seinen Kameraden, muslimische Mädchen und Frauen vergewaltigte und anschließend tötete, die zu diesem Zweck in einem Motel in der Nähe von Sarajevo eingelagert waren. Kenović schnitt sein Material von rund einhundertfünfzig Minuten auf achtundzwanzig Minuten zusammen, aber dieses Vergewaltigungsmotiv läßt er viermal nacheinander erzählen, was die Wirkung einer Schreckensballade auslöst. Es dominieren immer die gleichen Bewegungen: Das Opfer wird ausgewählt und niedergeworfen, bei Widerstand einige Ohrfeigen, dann die Pistole an die Schläfe, und so wird der Akt vollzogen, dreimal, viermal nacheinander, denn so viele Soldaten machen es. Letzte Episode: das Niedermetzeln des Opfers im weichen Schoß der Natur. In die identischen Motive mischen sich Variationen: die Vornamen der Frauen, Unterschiede in ihrem Äußeren, ihrem Alter, der Intensität ihrer Abwehr.
Einmal ist der Vater des Mädchens zugegen, auch andere Angehörige. Da wird die einzige Frage gestellt, die Borislav Herak nicht versteht. Wie hätten sie denn Widerstand leisten sollen, wo doch Waffen auf sie gerichtet waren! Natürlich haben sie sich nicht gemuckst, was hätten sie gegen die Maschinenpistolen ausrichten können!
Kenović wollte den Interviewten keinesfalls dämonisieren. Zu Beginn erkundigte er sich nicht nach seinen Heldentaten, sondern nach Büchern, die er gelesen habe, nach seiner Lieblingsmusik, dann nach seiner Familie, seiner Weltanschauung. Die eine Großmutter war Kroatin, seine vergötterte Schwester hatte einen Muslim geheiratet, auf den er große Stücke hielt. Auch von anderen Seiten war nichtserbisches Blut in die Familie gekommen; Herak hatte sich also nicht vom Mythos der Rassenreinheit leiten lassen. Wovon aber dann?
Kein politischer, kein religiöser, kein nationaler Fanatismus, keine verhängnisvolle Unsensibilität, denn so ungerührt seine Stimme auch klingt, er berichtet, daß ihm seine Opfer im Traum erscheinen. Dann schreckt er hoch, entsetzt und in Schweiß gebadet, ein richtiger kleiner Richard III.
„Anlegen würde ich mich nur mit dem Titel deines Films“, sage ich zu Kenović. „Warum nennst du Herak ein Ungeheuer? Er ist doch ein ganz normaler Mensch.“ Aus der Höhe lächelt es freundlich. „So ist es“, lautet die Antwort. „Er hat nur gemacht, was von ihm erwartet wurde.“ Ich nicke. Heraks Beispiel bekräftigt, was ich schon lange glaube: daß man nicht den ersten Schritt tun darf. Wer auf Befehl Ferkeln die Kehle durchschneidet, wird sie auch Menschen durchschneiden. Und wer sie dem ersten Menschen durchschneidet, hat danach keine Wahl mehr. Wenn er nämlich beim zweiten Mal zögert, gibt er damit zu, daß er beim ersten Mal ein Verbrechen begangen hat. Für ihn gibt es dann nur noch die Flucht nach vorn, weit weg vom Schuldbewußtsein, und zwar auf die Weise, daß er seine Schuld mit Routine kaschiert und zur Gewohnheit macht. Als einzelner könnte er das nicht tun, deshalb betrachtet er sich als Teil eines Zu
Fortsetzung nächste Seite
Fortsetzung von Seite 13
sammenschlusses. In diesem Zusammenschluß verkörpern sich die Normen, die sich der normale Mensch zu eigen macht. Herak sieht es in der Gefangenschaft als logisch an, daß die Bosnier ihn hinrichten werden, weil unter ihnen nicht die Normen gelten, nach denen er sich gerichtet hat. Vielleicht unternimmt er deshalb keinen Versuch, Mitleid mit sich zu wecken. Im Zusammenhang mit seinen ersten Morden läßt er diese Bemerkung fallen: „Ich wußte, das ist meine Stadt, aber jetzt kam sie mir weit weg vor.“ Seine Stadt, das ist Sarajevo, wo drei Volksgruppen bis in die jüngste Zeit friedlich miteinander verbunden lebten. Nach den Greueltaten mußte sie ihm weit weg vorkommen: Der normale Mensch entfernt alles von sich, was ihn daran hindert, sich nach den Erfordernissen zu richten.
Kenović stimmt dem zu und betont mit Nachdruck, das Ungeheuer sei das System, das Herak auf sich dressiert habe. In mir erwacht ein Teufel, gibt keine Ruhe. Ich erzähle dem Regisseur, was ich am Morgen im CNN-Fernsehen gesehen habe. Muslimische Kämpfer haben sechzig Kilometer von Sarajevo entfernt die Einwohnerschaft eines kroatischen Dorfes ausgerottet, Alte, Frauen und Kinder, weil sie keine wehrfähigen Männer vorgefunden hatten. Sie schlachteten sogar das Vieh ab; so war zum Beispiel ein entsetzlich verstümmelter Hundekadaver zu sehen. Ich frage Kenović, ob er auch über diese Scheußlichkeiten einen Film machen würde. Er nickt. Dieser Wahnsinn gehört zum System. Ihn interessiert nicht die bosnische Wahrheit, sondern die Wahrheit. In diesem Krieg droht eine totale Verrohung. Die großen Fernsehgesellschaften wollen daraus freilich nur, wie zur westlichen Selbstbestätigung, die Lehre ziehen, daß alle auf die gleiche Art Mörder sind, also auf die gleiche Art verantwortlich. Zu verurteilen sind alle Morde gleichermaßen, aber die Verantwortung und die Verbrechen sind zwischen den Aggressoren und ihren Opfern ungleich verteilt.
Nach Kenović sind also auch die bosnischen Massenmörder Teile des dem Land von den Serben aufgezwungenen Systems, und ihre Normalität ergibt sich aus dessen Brutalität. Wer nun daraus auf eine Voreingenommenheit des bosnischen Regisseurs schließen möchte, sollte unbedingt bedenken, daß während der Belagerung allein in Sarajevo dreitausend Kinder umgekommen sind. Ich bin froh, daß Kenović' Interesse und Kamera dennoch kein Tabu kennen. Ich sitze ihm gegenüber auf der Bank hinten im Hof. Inzwischen ist es fast dunkel geworden. In der Ferne wird geschossen. Wir werden heute nacht Vollmond haben. Ich hoffe, nicht Heraks eiförmiger Köpf wird am Himmel zu sehen sein. Als wir aufstehen, wirkt Kenović noch dünner und noch länger, sein Bart verströmt Traurigkeit. Deshalb schwatzen und lachen wir noch ein Weilchen, bevor wir uns voneinander verabschieden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen