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Die Poesie auf dem Fußballplatz

■ Gespräch mit Mara Zalite, Redakteurin der lettischen Literaturzeitschift „Karogs", über Politik und Poesie

Der „geistige Hunger" während der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa bescherte den Literaten ein breites, interessiertes Publikum. Heute kämpfen die politisch engagierten Literaturzeitschrfiten ums nackte Überleben — so stellen es Autoren und Verleger aus den Bremer Partnerstädten Bratislava, Gdansk und Riga dar, die in dieser Woche im Rahmen der „Bremer Dialoge" in der Villa Ichon zu Gast sind. Am heutigen Freitag kommen Literaten aus Lettland in mehreren Veranstaltungen zu Wort. Über die besondere Rolle der Literatur im Freiheitskampf der Letten sprach die taz vorab mit Mara Zalite, die in Riga die Monatsschrift „Karogs" („Die Farben") herausgibt.

taz: Sie haben vom „geistigen Hunger“ gesprochen, der die Letten zur Zeit der sowjetischen Herrschaft zur Literatur brachte. Was ist davon geblieben?

Im Moment ist der reale Hunger das größte Problem der Letten. Die Alltagssorgen um die materiellen Dinge sind an die Stelle des geistigen Hungers getreten. Besonders die alten Leute und die kinderreichen Familien müssen um das Existenzminimum kämpfen. Ein wichtiger Grund für den Rückgang ist auch, daß die Literatur zur der Zeit der Sowjetunion eine ganz andere Rolle als heute gespielt hat, nämlich die politischen und nationalen Inhalte der Letten zu vermitteln. Man suchte nach der Wahrheit, und die Wahrheit fand man nur verschlüsselt in den Büchern.

Worüber schreiben diese Autoren denn heute?

Ein großer Teil der Autoren schreibt heute gar nicht. Wir versuchen zur Zeit zu analysieren, warum das so ist. Es ist wohl das Chaos, der Umbruch, in dem man sich erst wieder neu orientieren muß. Die schöpferische Energie kam ja oft aus dem Widerstand heraus — nicht so sehr als politische Opposition, sondern aus einem Streben nach einer humanen Existenz. Es war zum Beispiel 1988 beim Kongreß des Schriftstellerverbandes, als zum ersten Mal die Forderung nach Unabhängigkeit öffentlich gestellt wurde. Das hat das Volk sehr stimuliert und begeistert. Das gab die Kraft, zu schreiben. Aber diese Energiequellen sind versiegt. Nun müssen wir nach neuen Quellen suchen.

Wie wird in der Literatur denn das aktuelle politische Geschehen, die Zeit des Umbruchs, reflektiert?

Das gibt es praktisch gar nicht. Es gibt ein psychologisches Phänomen bei uns: die „Erneuerung des Staates“, das ein gefügeltes Wort geworden ist. Natürlich ist es real notwendig, den Staat praktisch neu aufzubauen, aber dieses Schlagwort erinnert manche Intellektuelle an die Phrasen der sowjetischen Propaganda. Sie haben auch Angst vor einer Wiederholung der Geschichte der 20er Jahre: In der damaligen, ersten freien Republik Lettland haben sich viele Schriftsteller für die Sache eingesetzt, aber es ist leider nicht sehr gute Literatur

Mara Zalite: „Deutschland ist für uns als Modell sehr interessant"Foto: Oberheide

dabei herausgekommen. Heute haben viele Schriftsteller Angst, sich agitatorisch zu engagieren. Viele haben sich daher entschlossen, zu schweigen.

Die derzeitige Bremer Veranstaltung steht ja unter dem Titel „Dialoge“. Wie sieht denn Ihr Beitrag als Literaturzeitschrift zum Dialog aus?

Sehr konkret. Im Oktober zum beispiel haben wir unser ganzes Heft der zeitgenössischen deutschen Literatur gewidmet. Natürlich ist Deutschland für uns als Modell sehr interessant. Hier

hierhin die Brillenträgerin

treffen zur Zeit die westliche und die östliche Gesellschaft aufeinander — eine Konfrontation, die wir in Lettland auch erleben. Außerdem ist ein Viertel von „Karogs“ regelmäßig für ausländische Literatur vorgesehen.

Erkären Sie mir noch Ihre Bemerkung: „Nur in einer Diktatur liest man die Poesie auf dem Fußballplatz?“

Die Literatur war bei uns so populär, daß Lesungen oft in sehr großen Hallen stattfinden mußten. In der Sowjetunion gab es wirklich literarische Veranstal

tungen in Sportstadien. Fragen: tom

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