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Genießen, ohne zu verblöden

1.365 Einfälle: Das „Medienarchiv“ der Agentur Bilwet in Amsterdam  ■ Von Nils Werber

„Fünf Ideen pro Seite“ hatten die Amsterdamer Medienarchivisten Geert Lovink und Arjen Mulder versprochen, und für 273 Seiten hat es gelangt. Die beiden Hauptvertreter der Agentur Bilwet haben Phänomene aus den unendlichen Weiten des medialen Universums gesammelt, beschrieben, kritisiert, analysiert oder bewertet. Kurze aphoristische Prosa kreist amüsant und ideensprühend um jedes ihrer „Unbekannten Theorie Objekte“ vom Verkehrsschild bis zum Alien. Sind die elektronischen Medien von heute Hybride, so ist auch die Essayistik des Medienarchivars ein Bastard vieler Väter vom Flaneur Benjamin über den medientheoretischen Schlagwortgrossisten McLuhan bis zum Neo-Futuristen Virilio oder zum Cyberpunk-Erfinder Gibson. Der zerstreute Blick der Autoren fällt auf beinahe Beliebiges und zerrt es in das Licht der technischen und soziologischen Analyse oder verzerrt es in den Science-fiction-Kontext des Cyberspace.

Zum Beispiel Rambo. Er tauchte in der Welt der Medien auf, als sich die Armeen in die Virtualität der Simulation zurückzogen. „Die Armee, die nicht mehr fähig war, Krieg zu führen, weil sie Teil der Abschreckung geworden war, ersetzte er, indem er selbst zum Krieg wurde.“ Seine Faszination verdankt er der „Tracht der prämedialen Krieger“, die der „anthropologische Konservierungskolonialismus aus der Tristesse der Tropen mitgebracht hatte“ und der „Effizienz moderner Kompaktwaffen“. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde dieses mediale Ventil folkloristischen Kampfgeistes von Ramboiden ersetzt: kroatischen und serbischen Milizen, die vom Zuschauer sofort als „Klone von Stallone“ erkannt wurden. Sie führen ramboesk einen „Privatkrieg gegen die eigene Bevölkerung“. Diese Klone folgen damit vielleicht einer medialen Logik, welche von UNO und EG auch nach dem 52. gebrochenen Waffenstillstand noch immer nicht erkannt worden ist: dem Bedürfnis Rambos nämlich, „immer wieder an die Front zurück(zu)kehren, um als vollwertiges Individuum neu geboren werden zu können“.

Oder Drogen. „Die einzige Überlebensstrategie der Medien ist, unter allen Umständen interessanter als die Realität zu sein.“ Die permanenten Zuschauerbefragungen machen es möglich: „Wenn ein Item nicht interessant ist, bekommt es langsam einen neuen Inhalt.“ In diesem Sinne sind Drogen Medium und Message. „Die Fähigkeit eines Buches oder Films, an einem Abend eine ganze Reihe von Details in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, kann auch auf pflanzliche Art erreicht werden“, indem die „eigene langweilige Umgebung plötzlich eine überraschende Spannung“ bekommt. Aber längst sind auch Medien Drogen, mit einem Kick bei der ersten Anwendung (zum Beispiel die „erste Radfahrt mit Walkman“) und einem sanften Rausch danach. Süchtig halten die Medien uns, weil nur fünf Prozent ihrer Informationen wichtig sind, während man „95 Prozent der Impulse auf ein subliminales Niveau“ herabsenkt: „95 Prozent Bullshit, mit dem Versprechen, daß irgendwann irgendwo die wahren fünf Prozent erscheinen werden.“ Jeder Werbe-Trailer beweist, daß ein Kinofilm auf fünf Minuten gekürzt werden kann, ohne Essentielles zu vergessen.

Oder Journalismus. „Auf der ganzen Welt sitzt Tag für Tag der gleiche Schlag von Menschen an den gleichen Quellen und stellt die gleichen Reportagen zusammen für ein Publikum, das überall gleichermaßen desinteressiert ist.“ Und da „jede Wahrnehmung im Kosmos“ prinzipiell mit „jeder anderen gleichwertig“ ist, entsteht ein Medienrelativismus, der auch die „gediegenste intellektuelle Anstrengung auf einen Beitrag für die eigene Karriere reduziert“, die bekanntlich von der Menge der erreichten Konsumenten abhängt.

Die Agentur Bilwet nimmt die Haltung des Users ein, der Filme und Gemälde, Vinyl und CDs, Briefe und ISDN mag. Sie extrapoliert aus den medialen Wirklichkeiten die Möglichkeiten des kommenden Jahrtausends und feiert mit William Gibson den Import des Interfaces in die Nervenbahnen des Hirns, der dem User den sechsten Kontinent des Cyberspace eröffnet, und räumt zugleich den alten Medien dem „subtilen Grau, das aus dem Bleistift fließt“, dem „Relief, das von der Ölfarbe hervorgezaubert wird“, der „Magie des zerfallenden Nitratfilmes“ mit relaxter Coolness ihren Ort ein: „Instrumente des Barock haben nichts gegen Wachsrolle oder CD.“

Durch die vielen Episoden der Medienjunkies und Cyberpunks, Cineasten und Leser zieht sich ein Credo, das auch immer wieder historisch zu belegen gesucht wird: Medien sind hybrid. Sie sind ineinander konvertierbar, verschaltbar und zu verkoppeln mit Aussicht auf Emergenz. Daher empfehlen sie den Mißbrauch von Medien als Tor zur Innovation. Man solle Medien nicht mit einer „Read-only- Memory-Mentalität“ konsumieren und somit konservieren. „Nur der Falschanschluß läßt die Funken sprühen. Alten Medien sollte man als RAM entgegentreten, und dann random bis zum Exzeß.“ Entsprechend haben sie nicht nur Spaß an technischen Utopien, sondern auch an der Störung, dem Virus, dem Hacker. „Wenn die Kontrollampe aufleuchtet, blüht der Spaßnavigator erst auf.“ Beim Flug durch ihr Medienarchiv blinkt sie die ganze Zeit in rot. Die Lektüre ersetzt den Trip, denn sie zaubert aus dem Material beinahe zu Tode interpretierter Banalitäten die interessantesten Beobachtungen. Während Germanisten oder Soziologen auch den zehnten Sammelband zum Thema Medien mit dem allzu Bekannten füllen, gibt Bilwet Anleitung dazu, den täglichen Datenüberfluß zu genießen, ohne dabei zu verblöden. Dies gelingt bisweilen mit analytischer Brillanz, immer undogmatisch und ohne leidiges Moralin. Wem es bei all diesen Aperçus an Kohärenz fehlt, der sei daran erinnert, daß auch McLuhan ein „Philosoph des Einzeilers“ war.

Agentur Bilwet: „Medienarchiv“. Bollmann Verlag, Bernsheim und Düsseldorf im Oktober 1993, 273 Seiten, 29,80 DM.

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