■ Mit Sellafield auf du und du
: Neue Leukämiestudie

London (taz) – Die Freude der Sellafield-Betreiber währte nur kurz: Hatte ein Londoner Gericht vor zwei Wochen noch entschieden, daß die Plutoniumschleuder im Nordwesten Englands nicht für genetische Veränderungen der Spermien bei Vätern verantwortlich ist, deren Kinder später an Leukämie erkrankt sind, so hat das staatliche Amt für Gesundheit und Sicherheit in einem vorgestern veröffentlichten Bericht zumindest einen statistischen Zusammenhang festgestellt. Das Amt stieß darüber hinaus auf Indizien für die These, daß eine „biologische Vermischung“ bei der Häufigkeit von Leukämie eine Rolle spielt: Wenn in eine feste Gemeinschaft Menschen von außerhalb „eindringen“, treten mehr Leukämiefälle auf.

In dem Bericht heißt es, daß eine erhöhte Krebsrate bei Kindern, deren Väter in der Atomanlage gearbeitet haben, offenbar nur für Arbeiter gelte, die in dem Ort Seascale gewohnt und ihren Job in Sellafield vor 1965 angetreten haben. Für andere Gegenden im Westen der Grafschaft Cumbria sowie für Väter, die erst nach 1965 in der Anlage gearbeitet haben, treffe diese Feststellung nicht zu. In Seascale beträgt die Leukämierate das Zehnfache des Landesdurchschnitts. „Es ist schwierig, einen Grund dafür zu finden“, sagte Eddie Varney, einer der Autoren des Berichts. „Ungefähr 90 Prozent der Sellafield- Arbeiter wohnen außerhalb von Seascale, und viele von ihnen waren einer hohen Strahlungsdosis ausgesetzt. Dennoch läßt sich bei ihnen nicht derselbe statistische Zusammenhang feststellen.“

Der Bericht erhärtet jedoch zumindest die Theorie des inzwischen verstorbenen Professors Martin Gardner. Der Epidemiologe von der Universität Southampton war im Februar 1990 zu dem Ergebnis gekommen, daß die Strahlung, der die Arbeiter in der Atomanlage Sellafield ausgesetzt waren, zu genetischen Veränderungen der Spermien geführt habe. Dadurch sei bei den Kindern Leukämie ausgelöst worden.

Gardners Bericht diente als Grundlage für die Klage von zwei Familien gegen die Sellafield-Betreiberin British Nuclear Fuels (BNFL). Die Doppelklage diente als Testfall für 40 weitere Familien, bei denen Kinder an Krebs erkrankt oder gestorben sind. Mit 8,5 Millionen Pfund war es nicht nur die teuerste Zivilklage in der britischen Geschichte, sondern auch das erste Mal, daß eine Klage wegen Schädigung des Erbguts zugelassen wurde. Richter French wies die Klage vor zwei Wochen jedoch zurück, da „Gardners Untersuchung nicht von anderen Untersuchungen gestützt“ werde. Das hat sich nun geändert. Martyn Day, der Rechtsanwalt der beiden Familien, will heute entscheiden, ob es in Anbetracht des neuen Berichts sinnvoll sei, Berufung gegen das Urteil einzulegen. Ralf Sotscheck