Keine Furcht vor den Faschisten

■ Nur noch wenige Juden in Rußland widerstehen dem wachsenden Antisemitismus

Über zwanzig Jahre bin ich mit der Familie Izkowitsch befreundet. Früher haben die beiden Jungen, Schenja, Dima, und ich miteinander geflirtet, später dann Samisdat- Literatur herausgegeben. Nach wie vor bewundere ich, wie ihre Mutter, mit dem schönen Namen Stalina, kocht und singt. Bei alledem habe ich mir niemals Gedanken darüber gemacht, daß ich, soweit sich das über zehn Generationen zurückverfolgen läßt – Russin bin. Und sie – Juden. Dabei hat der größte Teil meiner jüdischen Bekannten Rußland bereits verlassen. Den letzten Anstoß für den Entschluß gab bei vielen das Frühjahr 1991, als eine ganze Reihe jüdische Haushalte in Moskau überfallen und in Brand gesteckt wurden. Manche Juden waren damals fest überzeugt, daß es sich um ein gezieltes Pogrom rechtsnationaler Organisationen, wie zum Beispiel der zahlreichen untereinander verfeindeten „Pamjat“-Gruppen, gehandelt habe. Seither sind die Berge antisemitischer Literatur im Raubdruck-Angebot der Fußgängerunterführungen noch gewachsen, der gößte illegale Buch-Hit ist heute Hitlers „Mein Kampf“. Im Gegensatz zu den meisten anderen Juden sind die Izkowitschs noch hier. Auszuwandern wäre für sie nicht schwer zu organisieren. Stalina ist eine international bekannte Philologin, und auch die Söhne haben gute Verbindungen in ganz Europa, den USA und Israel. Ich fragte Ljuba, die Frau des erfolgreich dichtenden Schenja, ob sie keine Angst hätten zu bleiben.

L.: „Solange ich mich erinnern kann, wußte ich, daß ich Jüdin bin und somit also anders. Nicht unbedingt schlechter, sondern eben einfach anders. Daß ich Jüdin bin, erfuhren neue Schüler in der Klasse schon am ersten Tag. „Jüdin“ wurde als meine Nationalität ins Klassenbuch eingetragen. Der erste Junge, der sich in mich verliebte, erlitt einen Schock, als er erfuhr, daß ich Jüdin bin. Ich wußte auch immer, daß ich keine Chancen habe, an der Moskauer Universität aufgenommen zu werden, obwohl ich davon träumte, Biologin zu werden. Ich begnügte mich mit dem Institut für Forstwirtschaft.

Mein Mann ist wesentlich aufsässiger in bezug auf seine jüdische Nationalität. Als er mit sechzehn Jahren seinen ersten Paß bekam, hätte er sich als Russe deklarieren könne, denn Mama Stalina war als Russin gemeldet, und die Eltern bedrängten ihn, sich für diese nichtjüdische Variante zu entscheiden. Als er aber von der Miliz zurückkehrte, sagte er ihnen: „Als ich an die Reihe kam, waren die russischen Pässe gerade alle.“ Es waren nur jüdische übriggeblieben. Alle fanden das wahnsinnig witzig, außer seinen Eltern.

taz: Wird dein Sohn an der Universität studieren können? Was habt ihr hier für eine Zukunft?

L.: Das ist eine sehr schwere Frage. Und fast jeden Tag entscheiden wir sie von neuem. Schließlich sind wir russische Juden. Keine amerikanischen, keine deutschen. Schenja schreibt seine Verse auf russisch, wie Pasternak. Als Bürger dieses Landes hoffen wir auf bessere Zeiten, auf eine Wende, auf eine Renaissance. Wir gehen in die russisch-orthodoxe Kirche und nicht in die Synagoge. Obwohl wir uns nicht haben taufen lassen, weil wir das für eine formale Angelegenheit halten, wie den Stempel in den Paß bei der Eheschließung. Und deshalb haben wir doch in letzter Zeit tatsächlich Probleme in unserem Freundeskreis bekommen. Einige haben sich von uns abgewandt.

taz.: Wird es dabei bleiben? Heute machen sich die russischen Faschisten stark. Sie waren es, die die Fernsehstation Ostankino, das Bürgermeisteramt geplündert haben und im Weißen Haus wüteten.

L.: Der Faschismus hat in Rußland keine Wurzeln. Ich habe das Gefühl, alle wirklich lebendigen nationalistischen Regungen in der Stadt konzentrieren sich heute auf die Markthändler aus dem Kaukasus. Ich fürchte mich weder vor der Pamjat noch vor der Russischen Nationalen Einheit, noch vor den Kommunisten. Weil ich Optimistin bin und an Gott glaube. Weil ich sicher bin, daß mir meine russischen Freunde unter allen Umständen helfen werden. Meine Cousine in der Nachbardatscha, allerdings, zittert jeden Tag und stirbt fast vor Angst ... Das Interview führte Galina Lapsina, Moskau

Bearbeitung und Übersetzung: Barbara Kerneck