: Kurdische Stadt Lice niedergebrannt
Offenbar Racheakt des türkischen Militärs nach dem Tod eines Generals / PKK bestreitet Tat / Ultimatum der PKK: Politische Parteien sollen Tätigkeit in Kurdistan einstellen ■ Aus Ankara Robert Mueller
Die rund 20.000 Einwohner zählende kurdische Stadt Lice ist laut Augenzeugenberichten vollends zerstört und abgebrannt. Seit Donnerstag toben in der Stadt Kämpfe zwischen Guerilleros der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und dem türkischen Militär. Beide Seiten setzten offensichtlich schwere Waffen ein.
Über die Zahl der Toten gibt es keine verläßlichen Auskünfte. Der Gouverneur von Diyarbakir, Ibrahim Sahin, sprach davon, daß neun Zivilisten und fünf PKK-Guerilleros getötet worden seien. Demgegenüber sprach der PKK-Kommandant der „Volksbefreiungsarmee Kurdistans“, Cemil Bayik, von einem „Massaker des Staates“, bei dem rund 380 Personen getötet worden seien. In einem über die PKK-nahe Nachrichtenagentur Kurd-Ha verbreiteten Erklärung heißt es: „Der Staat hat unter Einsatz von Panzern und Kanonen ein Massaker verübt. Außerdem wurden von Helikoptern aus Bomben geworfen. Nach Informationen, die ein überlebender Patriot uns mitteilte, wurden 27 Menschen in eine Moschee getrieben und dort exekutiert.“ Verletzte aus Lice, die in die Krankenhäuser Diyarbakirs eingeliefert wurden, sprechen von „vielen Toten“ und einer abgebrannten Stadt.
Indirekt bestätigt werden diese Aussagen vom Vorsitzenden der „Republikanischen Volkspartei“, Deniz Baykal, der am Samstag zusammen mit sieben weiteren Abgeordneten versuchte, in die Stadt zu reisen. Trotz Intervention von seiten des Staatsministers Necmettin Cevheri verweigerte das Militär acht Kilometer vor Lice den Parlamentariern die Weiterfahrt. Baykal berichtete, daß die Straße mit Panzern abgesperrt sei und Rauchschwaden emporzogen.
Weil keinerlei Möglichkeit besteht, telefonisch Lice zu erreichen, und sowohl der türkische Staat als auch die PKK faktisch ein Journalistenverbot durchsetzen, tappt man bei der Rekonstruktion der Ereignisse im dunkeln. „Ein Bombenregen auf die PKK. Die Vernichtungsoperation gegen die Terroristen hat begonnen. In Lice, wo Ausgangssperre herrscht, wird jedes Haus durchsucht“, lauteten gestern die Schlagzeilen des Massenblatts Milliyet. „Massaker in Lice“ schlagzeilte die Istanbuler Tageszeitung Özgür Gündem, die der PKK nahesteht.
Es ist anzunehmen, daß das türkische Militär den Angriff einer PKK-Einheit und den Tod des Gendarmeriekommandanten, General Bahtiyar Aydin, zum Anlaß nahm, um wahllos auf die kurdischen Einwohner Lices, die als PKK-Anhänger gelten, zu feuern. Die PKK bestreitet unterdessen, je eine Aktion in Lice durchgeführt zu haben. Auch sei der General, der gestern in einem Staatsakt in Ankara beigesetzt wurde, nicht von der PKK getötet worden.
Angesichts der jüngsten Ereignisse herrscht bei den türkischen Politikern, die daran glauben, die PKK militärisch besiegen zu können, nunmehr völlige Ratlosigkeit. Der PKK war es vergangene Woche problemlos gelungen, ein Presseverbot durchzusetzen. Mit der Entführung des Stadtverbandsvorsitzenden der „Sozialdemokratischen Volkspartei“ in Diyarbakir, Hayati Kahraman, am letzten Donnerstag gelang ihr ein weiterer großer Schkag. Die PKK hat ein Ultimatum gestellt, wonach allen politischen Parteien verboten wird, in Türkisch-Kurdistan tätig zu sein.
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