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Aura-Konto überzogen

■ Kammerspiele und Kampnagel: zwei enttäuschende Premieren

Auch Theater haben Konten, sogenannte Aura-Konten. Auf ihnen verzeichnet das werte Publikum Einfälle, Erlebnisse und Sinngehalte und summiert sie zum Aura-Saldo. Allerdings wird in verschiedenen Theatersparten mit unterschiedlichen Valuten gerechnet. So zahlt man auf Kampnagel in Innovaten und in den Kammerspielen in Amüsematen. Nach den letzten Premieren in diesen Häusern mußten die Kontenverwalter, die sogenannten Krediker, allerdings zum baldigen Kontenausgleich mahnen. Wobei erschwerend hinzukam, daß die Kammerspiele ihren neuerlichen Kredit unter der Vorspiegelung falscher Inhalte erschlichen hatten.

Gab man doch an, man habe sich einem zeitkritischen Thema mit einem trotz achtzigjähriger Gedankeninflation angeblich hochbrisanten Text genähert, Schnitzlers Reigen. Und um sich auch noch den Anstrich dramaturgisch zupackenden Unternehmergeistes zu geben, fügte man dem doppelmoralischen Staffellauf einen Reigen Regisseure bei. Stephan Barbarino, sein Dramaturgengespann Jan Linders und Saskia Wesnigk sowie Werner Stadler und Werner Eggenhofer teilten sich die Szenen auf und prüften sie hemdsärmelig auf Boulevard und Zweideutigkeiten.

Doch die Forterzählung sexueller Betrügereien, die in wechselnden Paarbeziehungen die verklemmte Spannung im Deutschen Kaiserreich beschrieb, verdient keine komödiantische Verschlankung in grellen Farben. Entweder man exhumiert ohne Rücksicht auf seine Klientel die Parallelen zum Beziehungskrampf in den Neunzigern oder man sucht sich einen anderen Stoff. Als unterhaltendes Ringelreihen, das nach schlüpfrigen Lachern fischt, ist der Reigen überflüssig.

Nicht anders die Hommage an Schiwago des Moskauer Taganka Theaters. Im Ernst-Deutsch-Theater vielleicht ein Highlight war dieses russische Musical auf Kampnagel absolut deplaziert. Der Musik, die angeblich von Alfred Schnittke gewesen sein soll, die aber vielmehr danach klang, daß der unter „Mitarbeit“ aufgeführte Sohn Andrej Schnittke hier als schamloser Wiederverwerter väterlicher Motive am Werke war, fehlte jeder erkennbare Formwille. Pop-, Folklore- und Kirchenmusik-Kitsch verwurstete sich zu einer plumpen Melange an Kurzeinspielungen.

Schauspielerisch ältlich und textlich nicht zu verstehen (die anwesende Texttafel wurde vom Meister Willkür bedient), gab die Inszenierung von Juri Ljubimov schon zur Pause der Hälfte der Gäste hundert Gründe zu gehen. Abgesehen von possierlichen Schattenspielen bot das dreistündige Schauspiel nichts, was einen Gang auf Kampnagel gerechtfertigt hätte. Spießige Biederkeit und eine Haltung zur russischen Lage, die nur durch ihre vollständige Abwesenheit auffiel, gaben dem Stück auch inhaltlich Bedenkliches mit. Auch hier gilt: Achtung Aura-Konto! Till Briegleb

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