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Das Coming-out ist out

■ Produzent Jürgen Brüning und Barbara Wieler (S.A.F.E.) über Kult und Ritual im Homofilm der neunziger Jahre

taz: Das Festivalmotto „Kulte und Rituale“ hat sich laut Katalog „von allein angeboten“. Haben Lesben und Schwule einen besonderen Hang zum Ritual?

Barbara Wieler: Keinen anderen als Heteros. Der Unterschied ist der, daß die Rituale der Lesben und Schwulen offensichtlicher sind. Sie sind Ausdruck eines bestimmten Lebensgefühls, manchmal auch Spiel, und sie dienen der Suche nach Zugehörigkeit. Die Rituale fangen ja bekanntlich bei der Kleidung an: Levis-Jeans, weißes T-Shirt, Lederjacke...

Jürgen Brüning: Damit bieten sich die Rituale und Gewohnheiten für Filmemacher geradezu an. Rührselige Coming-out-Stories sind heute doch nicht mehr gefragt. Man geht lieber ins Detail und beschäftigt sich mit Lebensstilen oder Modererscheinungen.

Welche Kulte und Rituale tauchen im schwulen und lesbischen Film immer wieder auf?

Wieler: Früher war es sicher das Coming-out, das übrigens auch sehr ritualisiert abläuft. Im lesbischen Film fiel dann der Kult der Androgynität auf, das Spiel mit den Geschlechterrollen.

Brüning: Bei den schwulen Filmen gibt es das Phänomen, daß die Sexualität vorherrschend ist. Nicht das Bumsen an sich, sondern die verschiedenen Spielformen wie etwa S/M.

Gehen lesbische Filmemacherinnen mit den Ritualen der Szene anders um als schwule Filmemacher?

Brüning: Ich habe den Eindruck, daß sich Lesben theoretischer und bewußter mit ihnen auseinandersetzen. Das zeigen auch die vielen Dokumentationen, die im lesbischen Film vorherrschen. Im schwulen Film kommen die Rituale einfach nur vor, sie werden nicht hinterfragt.

Wieler: Bei Lesben kommt außerdem eine Portion Spiritualität in der Auseiandersetzung mit Kult und Ritual hinzu, während es bei den Schwulen ums Darstellen an sich geht. Und das ist es, was im lesbischen Film fehlt: das Ausdrücken von Gefühlen. Erst in den letzten Jahren haben einige Filmemacherinnen die Lebenslust entdeckt. Daß sich Lesben wie in „Suddenly last Summer“ über die Kultfigur Martina Navratilova selbstironisch auf die Schippe nehmen, ist noch die Ausnahme.

Homosexuelle Filme, die sich mit Aids oder HIV auseinandersetzen, machen sich rar. Woran liegt das?

Wieler: Es werden schon noch einige Filme über Aids produziert, aber es sind kaum interessante darunter. Das Thema ist gesättigt. Und es ist im homosexuellen Film wieder ein Stück Normalität eingekehrt: die Erkenntnis, daß es außer HIV noch etwas anderes gibt.

Brüning: Das ist keine Verdrängung der Filmemacher, sondern liegt an der Vertrautheit der Schwulen mit Aids. Einen Film, der zeigt, wie jemand stirbt, guckt sich doch niemand mehr an.

Sex wird in neueren lesbischen Kurzfilmen auffällig ausgiebig und erotisch dargestellt. Wollen die Lesben den „Vorsprung“ der Schwulen aufholen?

Wieler: Sex im Lesbenfilm ist tatsächlich etwas Neues. Es gab zwar die für Heteros gedachten Pornos, die Lesbensex zeigten, aber Filme von lesbischen Frauen hatten normalerweise immer nur einige Knutschszenen, höchstens wurde einmal übers Bett gerollt. Es kommt langsam ein neues Selbstverständnis auf, offen über Sex zu reden und ohne die Sexformen in gute und schlechte einzuteilen. „Joe Joe“ hat hier eine Vorreiterrolle übernommen.

Sollen diese erotischen Szenen deutlich machen, daß es den lesbischen Film überhaupt gibt, was einige Filmkritiker bezweifeln?

Wieler: Diese Szenen sollen Selbstbewußtsein vermitteln, aber da geht es weniger um die Kritiker als um die Szene.

Läßt sich die überraschende Quotierung der Filme auf dem Festival auf einen Boom im lesbischen Film zurückführen?

Wieler: Nein, wir als Veranstalter haben einfach unsere Kontakte zu lesbischen Filmemacherinnen optimal genutzt, und Lesben haben sich auch mal getraut, uns ihre Sachen zuzuschicken.

Brüning: Andererseits liegt die lesbische Präsenz auch am Videoformat, das es ermöglicht, auf sehr billige Weise zu produzieren. Viele der neuen lesbischen Filme sind auf Video entstanden. Bei den teureren Spielfilmen überwiegen dagegen nach wie vor die schwulen Produktionen. Ohne filmisch verarbeitete Kulte gibt es keinen Kultfilm.

Welchen Kult muß heute ein lesbischer beziehungsweise ein schwuler Film thematisieren, damit er zum Kultfilm wird?

Wieler: Ein solcher Film muß ein bestimmtes Lebens- oder Zeitgefühl treffen. Nur welches haben wir gerade in Deutschland? Was den lesbischen Kultfilm betrifft, müßte er vielleicht eine Mischung aus der Romantik von „Desert Hearts“, ein bißchen mehr Sex und einer Lebenslust wie in „Thelma & Louise“ sein, aber gleichzeitig die Untergangsstimmung aufnehmen, die sich in der Szene breitmacht.

Brüning: Bei den Schwulen wäre wahrscheinlich etwas zwischen „No Skin of my Ass“ und „Romper Stomper“ angesagt, nur noch etwas härter. Aber wenn ich das genau wüßte, würde ich doch sofort diesen Film produzieren. Gespräch: Micha Schulze

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