Sanssouci: Vorschlag
■ Gegenseitige Behinderung zum Zwecke der Kunst
Wer im Leben abseits steht, den sehen wir gern auf der Bühne. Seien es nun Castorfs Obdachlose oder die Schizophrenen im Tacheles, seien es Mrožeks „Emigranten“ oder die belgische Behindertentruppe STAB im Podewil. Im geschützten Raum des Theaters werden sie fein herausgeputzt, und wir bestaunen die, denen wir auf der Straße aus dem Wege gehen. In der Gebrochenheit dieser Menschen und ihrer Sprache erblicken wir etwas naiv die Leistungen eines besonders schöpferischen Ausdrucksvermögens. Insbesondere die Theaterarbeit mit geistig und körperlich Behinderten verführt Regisseure und Zuschauer schnell zur Suche nach der authentischen Lebensäußerung. Aus dieser Naivität wird noch schneller Heuchelei.
Die Truppe des Theaters Thikwá hat mit der Mystifikation der geistig Armen glücklicherweise nichts zu tun. Hier läßt kein Theaterpädagoge die Puppen tanzen, hier gibt es keine Dressur des Schwerfälligen und Blöden zum höheren Nutzen eines Kunststücks. Bei Thikwá stehen behinderte und nichtbehinderte Schauspieler gemeinsam auf den Brettern. Und zwar ohne daß wir das Gefühl bekommen, jeder spiele für sich oder der eine schleife den anderen mit, damit alles schön integrativ aussieht. Die Integrationsarbeit dieses seit drei Jahren bestehenden Theaterlaboratoriums ist nicht einmal der Versuch einer Harmonisierung. Die Armen und Reichen im Geiste behindern sich hier gegenseitig zwecks Umverteilung der Güter. Und das sind harte Kämpfe.
„Da Hat Der Topf Ein Loch Am Ende Eine Liebesgeschichte“ ist die vierte Produktion von Thikwà. Das Stück arbeitet mit kleinen Inventionen und Prosastücken von Gertrude Stein, teils auf deutsch, teils auf englisch. Auf der Bühne begegnen einander eine Dichterin, ein Maler und eine Sängerin. Jeder ist ganz mit seinen künstlerischen Ausdrucksformen beschäftigt. Die eine deklamiert die stotternden Sätze vom Loch im Topf, die andere improvisiert mit viel Komik ihre Chansons, der dritte malt besessen und sucht eine Synthese aus den artifiziellen Poemen der Gertrude und eigenen absurden Erfindungen. Allmählich beginnt eine Annäherung der Figuren. Wenn am Ende die Dichterin und Sängerin ein Liebespaar sind, dann nicht nur, weil Musik und Sprache ununterscheidbar werden. Durchkomponierte Prosa trifft mit den spontanen, rätselhaften Sentenzen der sogenannten Behinderten zusammen. Das ist irritierend und witzig und macht Mut auch zur eigenen Konfrontation sowohl mit der Kunst als auch mit einer „Behinderung“. Matthias Schad
Vom 3.–11. und 10.–13.11. im Podewil, Klosterstraße 68, Mitte und vom 17.–20. und 24.–26.11. im Theaterforum Kreuzberg, Eisenbahnstraße 21.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen