: Im Gifthauch des großen Drachen
Die Wirtschaftsreformen haben die Volksrepublik China zu einem der schmutzigsten Länder der Erde gemacht ■ Von Erwin Single
Die tintenschwarzen Wolken sind dramatisch aufgerissen. Noch einmal läßt die untergehende Sonne den Yangtse kurz aufglühen. Wo sich der beißende Qualm aus turmhohen Schloten zu einer düsteren Gewitterfront zusammenbraut, liegt das Eisen- und Stahlwerk Baoshan, einer der größten chinesischen Industriekomplexe. Fast 14 Millionen Tonnen des rotglühenden Metalls wirft das Monstrum jährlich aus. Dank der fortgeschrittenen Technologie, rühmen sich die Betreiber, stehe Baoshan bei der Technik und Arbeitsproduktivität im ganzen Land an der Spitze. Doch von der bleigrauen Asche, die noch immer als giftiger Schnee vom Himmel fällt und Felder sowie angrenzende Industrieanlagen überzieht, redet keiner so gern. Auch die Arbeiter haben sich offensichtlich mit der schlechten Luft abgefunden. „Manchmal hängt der Dunst so tief“, sagen sie, „daß man nicht einmal bis zur nächsten Kreuzung sehen kann.“ Dann ziehen sie ihre zusammengefalteten Schnupftücher aus der Tasche, halten sie sich vor die Nase und radeln heim.
Das Überleben der Nation steht auf dem Spiel
Dabei ist Baoshan für chinesische Verhältnisse durchaus so etwas wie ein ökologischer Musterbetrieb. Hier gibt es, im Gegensatz zu den meisten anderen Stahlkombinaten, Filteranlagen und regelmäßige Abgasmessungen. Als die riesigen Hochöfen Mitte der achtziger Jahre mit japanischer Unterstützung am nördlichen Stadtrand von Shanghai aus dem Boden gestampft wurden, hatte die Beijinger Regierung bereits erste Konsequenzen aus der mörderischen Zerstörung der Umwelt gezogen: Sie erließ bändeweise Umweltvorschriften und drohte mit drakonischen Geldstrafen. Fabriken wurden auch mal geschlossen wie kürzlich in den Städten Shenyang und Fushun. Immerhin stehe das Überleben der chinesischen Nation auf dem Spiel, warnte Deng Nan, Vizeministerin für Wissenschaft und Technologie.
Dazu hat die Tochter des greisen Politikers Deng Xiaoping auch allen Grund. Seit sich das Reich der Mitte, einer der letzten Horte des orthodoxen Sozialismus, in das Abenteuer Kapitalismus stürzte, jagt es mit Riesenschritten hinter den Industrienationen hinterher. Doch mit dem Feuer des Drachen kam der Rauch: Elf Jahre Wirtschaftsreformen haben China zu einem der schmutzigsten Länder der Erde gemacht. Verordnungen gelten in dem inzwischen 1,2 Billionen Menschen zählenden Land nicht viel, sozialistische Produktionsbegeisterung und ungezügeltes Wirtschaftswachstum fordern weiter ihren Tribut. Viele Firmen kalkulieren lieber eine saftige Geldstrafe ein, als Initiativen zur Schadstoffemission zu ergreifen.
Nicht weit von Baoshan entfernt, auf der anderen Seite des Huang-Pu-Flusses, paffen die Schornsteine ätzenden Säuregeruch, giftgelbe Schwefelschwaden und brennende Benzoldämpfe in die Luft. Aus dem Gestrüpp rostiger Rohre auf dem weitläufigen Gelände der Gaoqiao Petrochemie, einer der größten Raffinerien des Landes, dampft, tropft und zischt es überall. Wenn der Wind ungünstig steht, werden die Passagiere auf der kleinen Fähre regelmäßig von Würgreiz gepeinigt. Im Winter, sagen die Leute, sei es noch schlimmer, da raube der Qualm aus Tausenden von Kohleheizungen ihnen zusätzlich die Atemluft. Überall wird ungewaschene schwefelhaltige Kohle verfeuert, wen wundert es da, daß Chinas bedeutendstes Industriezentum die höchste Lungenkrebsrate des Landes aufweist.
Aber nicht nur die Luftverschmutzung, auch das Wasser in Shanghai stinkt zum Himmel. Aus den unzähligen Kanälen des Industriegürtels rinnen täglich mehr als eine Million Tonnen Kloake ungereinigt in die Lebensader der Hafenstadt, die aussieht wie eine brodelnde, giftige Brühe. Pudong, die Sonderwirtschaftszone Shanghais, kann seit Jahren mit den höchsten Wachstumsraten der Welt aufwarten. Der Umweltschutz dagegen hinkt um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinterher. Kläranlagen gibt es kaum, und die wenigen Auffangbecken für den Dreck erfüllen selten ihren Zweck. „Was ich dort gesehen habe, spottet jeder Beschreibung“, berichtet ein Investment-Banker aus Hongkong, „das Wasser wird auf der einen Seite eingeleitet und kommt auf der anderen Seite wieder gleich heraus.“ Zwar werden neue Klärwerke geplant, doch bevor sie in Betrieb gehen, hat sich die Abwassermenge meist schon verdreifacht.
Der Wohlstand ist zur Leidenschaft geworden
China boomt. Keine Volkswirtschaft der Welt wächst so schnell, und der Londoner Economist prophezeite bereits, bis zum Jahre 2010 werde das Land zur größten Wirtschaftsmacht der Erde aufsteigen. Seit dem Beginn der Wirtschaftsreformen wuchs das Pro- Kopf-Einkommen der Bevölkerung von 350 auf rund 1.600 US- Dollar, der Konsum hat sich mehr als verdoppelt. Die Wirtschaft expandiert mit Raten von jährlich über 10 Prozent, in einigen Küstenregionen sogar um 20 Prozent. Und die Chinesen selbst, die den Wunsch nach Wohlstand und Reichtum mit Leidenschaft verinnerlicht haben, sollen das Bruttoinlandsprodukt bis zur Jahrtausendwende verdoppeln helfen.
Auf dem zweiten langen Marsch, der von den roten Mandarinen hinter den Mauern des Zhongnanhai-Regierungsbezirks in Beijing als „sozialistische Marktwirtschaft“ deklariert wird, gibt es jedoch kein Pardon. Rigorose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen gehört genauso zum Repertoire wie persönliche Bereicherung, Korruption und Armut. Würde Karl Marx noch leben, das Experiment triebe ihm die Schamröte ins Gesicht.
Die ökologische Schadensbilanz ist ein Horrorkatalog: Allein die „großen Fabrikschornsteine“ blasen jährlich 8,5 Trillionen Kubikmeter Abgase in die Luft. Durch die Kohleverbrennung werden jährlich über 20 Millionen Tonnen Staub freigesetzt, hinzu kommen gut 15 Millionen Tonnen Schwefeldioxid und 21 Millionen Tonnen giftigen Industriemülls. Die Abwassermenge beläuft sich auf etwa 40 Milliarden Jahrestonnen. Selbst die staatlichen Statistiker schätzen den volkswirtschaftlichen Verlust inzwischen auf umgerechnet über 30 Milliarden Mark.
Doch das ist noch nicht alles: Durch Erosion hat die Volksrepublik seit ihrer Gründung im Jahr 1949 eine halbe Million Hektar Ackerfläche verloren. Die Wälder schrumpften jährlich um 100 Millionen Kubikmeter. Seen und Flüsse werden als Abwasserbecken mißbraucht. So zieht der Giftbrei ungeklärt durchs Land und überschwemmt in der Regenzeit, wenn die Ströme über ihre Ufer treten, Tausende Hektar fruchtbares Ackerland. Die Hälfte der großen Binnengewässer ist vergiftet, vier Fünftel der Wasseradern schwer belastet.
Der Boom wird mit der Gesundheit bezahlt
Mit dem Grad der Umweltzerstörung nehmen auch die Gesundheitsrisiken zu. Das chinesische Institut für Umweltgesundheit und Umwelttechnik hat herausgefunden, daß bereits über die Hälfte der Chinesen auf verschmutztes Trinkwasser zurückgreifen muß. Und in den Betrieben ist jeder zweite Arbeiter gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt. Atemwegserkrankungen und Krebsfälle nehmen rapide zu, in einigen Gebieten liegt die Sterblichkeitsrate viermal höher als in den westlichen Industrienationen. Wie viele Menschen in China jährlich an den Folgen des Umweltruins sterben, wird jedoch von den Behörden verschwiegen.
Die Provinz Liaoning im Nordosten, die den höchsten Anteil der Schwerindustrie im Land aufweist, zählt zu den verschmutztesten Regionen der Volksrepublik. Die Umweltbehörde Nepa hat ermittelt, daß dort der Staubanteil in der Luft inzwischen bis zu 500 Mikrogramm pro Kubikmeter erreicht – das ist etwa zehnmal soviel als die UN-Weltgesundheitsorganisation WHO als zulässig erachtet.
Hinterlassenschaften des sozialistischen Bruders
Nicht weit von der koreanischen Grenze entfernt liegt Benxi, dessen Silhouette fast ausschließlich aus Schornsteinen und Kühltürmen besteht. Häuser, Bäume, Straßen, die ganze Stadt ist mit einer dicken Staubschicht überzogen. Landauf, landab erzählt man sich, daß die eine Million Einwohner zählende Industriemetropole zeitweilig selbst von Satelliten nicht mehr auszumachen war. Eine undurchdringliche Smogschicht hatte das von Bergen umgebene Benxi verhüllt. Mehr als 400 Fabriken stinken, rußen und stauben hier um die Wette – ein wahrer „Jurassic Park“ aus staatlichen Industriemonstern. Die Anlagen der Kohle-, Stahl- und Chemiegiganten, meist mit sowjetischer Bruderhilfe in den fünfziger Jahren errichtet, sind veraltet und unrentabel. Nach den geltenden Umweltgesetzen müßten die meisten stillgelegt werden. Aber weder Stadtverwaltung noch die Regierung wagen diesen Schritt. Sie fürchten um Hunderttausende von Arbeitsplätzen. So werden die Betriebe weiter mit Subventionen narkotisiert.
Im Mai hat das staatliche Umweltamt eine Liste mit 3.000 Unternehmen veröffentlicht, die den Hauptanteil der Umweltverschmutzung zu verantworten haben. Ganz oben stehen neben dem 70 Jahre alten Eisen- und Stahlwerk Anshan, das den Ausgangspunkt des ersten chinesichen Fünfjahresplans (1953–57) bildete und ebenfalls in der Provinz Liaoning liegt, die Petrochemiekomplexe am Yangtse in Daquing, Nanjing und Shanghai oder das Alu-Werk in Fushun. Alles in allem, so Wang Yangzu, stellvertretender Direktor der Umweltbehörde, verursachen diese 3 Prozent der Betriebe 60 Prozent aller Emissionen. Der Grund: Chinas wichtigster Energieträger ist die Kohle, sie macht nicht nur 70 Prozent des Energiebedarfs aus, sondern auch gut zwei Drittel der Umweltverschmutzung. Und mit der industriellen Produktion steigt auch der Energiehunger täglich.
1,5 Milliarden Yuan (rund 400 Millionen Mark) hat die Regierung zwischen 1985 und 1990 für Verbesserungen der Umwelt ausgegeben, im letzten Jahr sollten es laut Plan sogar ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts sein. Doch der Erfolg ist nicht gerade berauschend. Fast doppelt soviel Geld wäre nötig, um allein die aktuelle Umweltverschmutzung in Griff zu bekommen. Die Aussichten sind, trotz aller Bemühungen von Regierung und Nationaler Umweltbehörde, mehr als düster.
Arbeiter verteidigen mit Knüppeln ihre Fabrik
Ausgeprägtes ökologisches Bewußtsein lassen auch die Chinesen selten erkennen. Straßenränder und Eisenbahndämme sehen aus wie Müllhalden, in den Kanälen schwimmen Dosen und Pappbecher. Dennoch wollen immer weniger Menschen den unzüchtigen Umgang mit der Natur tatenlos hinnehmen. Mitte August zogen Demonstranten in der Provinzhauptstadt Lanzhou vor eine Chemiefabrik, die dort Abwässer ungeklärt in den Gelben Fluß einleitete und Abgase ungefiltert in die Luft blies. Mit Knüppeln und Stahlrohren verteidigten die Arbeiter ihre Fabrik – zwei Menschen, darunter ein 60jähriger Mann, wurden erschlagen.
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