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Ein bayerisches Sittenbild

Fetzenflug in der Jury: Kleine Nachbetrachtung mit Neuigkeiten zum „Fall Fussenegger“  ■ Von Oliver Marchart und Christian Michelides

„Alle Dackel hießen damals Waldi“ – mit diesen Worten dankte am 26.Oktober die „große Erzählerin“ Gertrud Fussenegger dem Freistaat Bayern für den Jean-Paul-Literaturpreis 1993. Die Auszeichnung würdigt ausdrücklich „das literarische Gesamtwerk“. Im Publikum auffallend viele Abenddirndln und Trachtenanzüge. Der Jubel der Festgemeinde ist groß. Hatte doch die tapfere 81jährige gerade eine „Hetzkampagne“ überstanden und war durch einen Seiteneingang – von Demonstranten unentdeckt – in die belagerte Bayerische Akademie der Schönen Künste gelangt. So blieb ihr auch die Lektüre der Transparente erspart. Eines von vielen erinnerte an ihre Münchner Zeit von 1937 bis 1944: „Gertrud, der Völkische Beobachter läßt schön grüßen.“

Im Zentralorgan der NSDAP, Münchner Stadtausgabe, hatte Fussenegger erste publizistische Erfolge gefeiert, bevor sie mit Magda und Joseph Goebbels dinieren durfte. Als literarische Hoffnungsträgerin des Regimes verherrlichte sie damals Führer und Anschluß, als linientreue Parteigenossin kam sie rasch zu ansehnlichen Auflagen und hymnischen Besprechungen. Ganz dem Geist der Zeit verpflichtet, diffamierte sie noch 1943 den jüdischen Friedhof von Prag als „Drachensaat“ und schon 1937 ein Mohrenkind „als blöde wie ein Tier“. Staatlich ausgezeichneter Rassismus, Antisemitismus, Totalitarismus – ein bayerisches Sittenbild aus dem Jahre 1993.

Da die hoffnungsvolle Jungnazisse vor 55 Jahren auch ein Anschlußgedicht des Titels „Stimme der Ostmark“ verfaßt hatte und die Preisverleihung ausgerechnet am österreichischen Nationalfeiertag stattfand, sahen einige österreichische Intellektuelle eine „bewußte Brüskierung“ ihres Landes.

Aber nicht nur aus Österreich, sondern auch seitens aller relevanten Stimmen des deutschen Feuilletons wurde Kritik laut. Weniger wegen der Vergangenheit der Preisgekrönten, sondern vielmehr wegen ihrer „gefährlich rückständigen Mediokrität“, wie die Süddeutsche Zeitung notierte. Die Zeit sah Fussenegger „bestenfalls durch ihr hohes Alter qualifiziert“ und ortete eine Beleidigung Jean Pauls: „Die Herren Philologen aber, die sich bei ihrer Wahl einen Namen als ,rasende Ministranten‘ gemacht haben, sollten ihre venia legendi künftig nur noch dafür gebrauchen dürfen, sich literaturkritisch über die Bücher Gertrud Fusseneggers zu beugen.“

Tatsächlich müssen in der freistaatlich-bayerischen Jury zu Ehren Jean Pauls die Fetzen geflogen sein – freilich heimlich. Denn heute herrscht eisernes Schweigen über die Vorgänge dort. Erstmalig in der Geschichte des Preises konnten sich die Juroren, das steht fest, nicht auf einen Preisträger einigen. Selbst als die Preisrichter zum Rapport ins Ministerium zitiert wurden, kam eine Einigung nicht zustande. Die Preisrichter legten schließlich eine Liste mit einer Kandidatin und zwei Kandidaten vor. Entscheidungsrecht hatten sie ohnehin keines. Auf die Spiegel-Frage, welchen Juror er jetzt feuern werde, antwortet der bayerische Kultusminister wahrheitsgemäß: „Keinen.“ Braucht er auch nicht: Einer ist schon gegangen.

Tankred Dorst ist inzwischen aus der Jury ausgetreten. Aus freien Stücken. So wie Georg Hensel im Jahre zuvor. Tankred Dorst wörtlich: „Ich möchte meinen Rücktritt nicht direkt mit dem ,Fall Fussenegger‘ verbinden. Mein Vorschlag war sie natürlich nicht. Aber ich will nicht einer Jury angehören, die kein Entscheidungsrecht besitzt.“

Es war der bayerische Kultusminister persönlich – er heißt noch Hans Zehetmair –, der sich für die Dame mit dem NSDAP-Parteibuch 6.229.747 entschied: „Ich wollte eine Frau.“ Nun hat er sie – und einen Skandal dazu. Eine andere Frau, das Straußen-Kind Monika Hohlmeier, sitzt schon als Staatssekretärin im Zehetmairschen Haus und wartet geduldig auf das ministerielle Erbe. Der Minister durchforstet inzwischen die Stellenangebote. Ab Mitte Dezember soll er, einziger Kandidat für den Job, den Vorsitz im Verwaltungsrat des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg übernehmen. Eine adäquate Position. Ob sie auch abendfüllend ist, muß sich noch herausstellen. Den Ministersessel hat er sich selbst angesägt. Denn statt sich mit der Vergangenheit der Preisträgerin zu befassen, schossen sich er und seine „rasenden Ministranten“ auf ihre Kritiker ein. Ins Visier nahmen sie ein „Verfolger-Grüppchen“ von „Alt-68ern“ und „Tiefkühl-Inquisitoren von der fanatischen, wohlfeilen und kontraproduktiven Sorte“, die aus „rachsüchtiger Bosheit“ eine „Hetzkampagne angezettelt“ hätten, sich „gratis als Gesinnungsrichter“ aufspielten und überhaupt – so Fussenegger selbst – „vor nichts zurückschrecken“. Umwertung aller Werte: Die alte Nazisse als Opfer, als Verfolgte.

Fakten irritieren in Bayern kaum. Der Pressesprecher des Kultusministers gab bekannt, daß ihm Publikationen Fusseneggers in NS-Organen „nicht bekannt“ seien. Der Minister erklärte das gesamte Nachkriegswerk der Schriftstellerin schlichtweg und faktenwidrig zur „Trauerarbeit“. Fussenegger selbst wies Vorwürfe des Antisemitismus zurück und den Zentralrat der Juden in Deutschland zurecht.

Mittels Solidaritätsadressen verbunkerten sich die Kritisierten. Ihr Spektrum reicht von rechts außen bis rechts innen. Neben anderen Unbekannten findet sich da zum Beispiel Eugen Thurnher, der seine germanistische Karriere 1942 in der Zeitschrift Germanien startete. Oder Herbert G. Göpfert, der zu Hitlers Zeiten im Langen-Müller Verlag Josef Weinheber lektorierte, welcher damals dichtete: „Deutschland, ewig und groß, Deutschland, wir grüßen dich: Führer, heilig und stark, Führer, wir grüßen dich!“ Oder Eberhard Dünniger, verlängerter Arm des bayerischen Verfassungsschutzes im Kampf gegen Linksextremisten und nebenbei Generaldirektor der Staatlichen Bibliotheken Bayerns. Dieser treue bayerische Staatsdiener vermutet in einer – auf bayerische Staatskosten aus seinen Bibliotheken gefaxten – Pressemitteilung eine geheime bayerisch-österreichische Achse des Anarchismus: „Die Initiatoren der Verleumdungskampagne in Wien“ müssen sich „fragen lassen, ob und in welcher Weise sie mit Linksextremisten in der Bundesrepublik Deutschland und vor allem in München zusammenarbeiten.“

Wo die Argumente nicht stechen, muß in der Gesinnung gestochert werden. Anstatt zu feixen und wild durch die Gegend zu faxen, kann man die Dinge auch einmal zurechtrücken. Worüber zu reden gewesen wäre, worüber aber nicht geredet wurde, ist das größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Die Dame aus Leonding hat zwar nicht selbst gemordet und gebrandschatzt, das hat ihr niemand vorgeworfen. Aber sie hat das NSDAP-Regime und seine Vernichtungsfeldzüge unterstützt mit Worten, in Büchern, wissentlich. In ihrer Autobiographie erinnert sich Gertrud Fussenegger ganz genau, wann, wo und von wem sie erfuhr, was mit den Verschleppten geschah. Die Haushälterin erzählte ihr Ende 1942:

„,Sie fangen die Juden zusammen', fuhr Frau Pechler fort und schrubbte weiter, ,im letzten Winter haben sie damit angefangen. Da haben sie die Juden auf offene Waggons gesetzt, Männer, Weiber, Kinder, fünf-, sechshundert Stück, und sind losgefahren mit ihnen von Budweis nach Pilsen. Es waren gerade minus zwanzig Grad. Wie der Zug angekommen ist, waren die Juden tot, alle tot, hart gefroren.‘ – ,Das ist doch nicht möglich.‘ – Freilich ist das möglich‘, erwiderte Frau Pechler und gab dem Boden letzten Glanz, ,der Führer hat's befohlen, mit allen Juden wird jetzt Schluß gemacht.‘“

Wenige Monate später, im April 1943, verwertet Fussenegger die Mitteilungen ihrer Haushälterin – triumphierend: „Einst waren hier unter zehn Menschen fünf Juden zu treffen...“ Früher verlieh die „willig geduldete Überfremdung durch Artandere und Entartete Prag ein zuweilen bis zur Verzerrtheit groteskes Bild“. Rekapitulierend: „Derlei Unfug ist heute in Prag längst verschwunden.“

Zu konstatieren ist, daß 48 Jahre Antifaschismus sich als wirkungslos erwiesen haben, daß die Empörung des Zentralrats der Juden in Deutschland als „schlecht recherchiert“ diffamiert wird, daß Proteste nichts nützen, daß trotzdem alter Schrott ausgezeichnet, daß Geschichte „normalisiert“ wird. Rolf Schneider notiert in einem Kommentar in der Woche: „Alles ist in Ordnung. Alles atmet den Zeitgeist. Wieso regt sich da noch jemand auf?“

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