Eine Mauer der Ablehnung

Das „Aids-Forum“ betreut von HIV-Infektionen betroffene Kinder und Eltern / Trotz großer Nachfrage wurde noch keine einzige Stelle bewilligt  ■ von Kai Strittmatter

Der fünfjährige Tobias* ist sauer. Nicht mal im Kinderzimmer lassen sie ihn Krach machen. Er schnappt sich seinen Gong und stürmt unter blechernem Getöse auf die Straße hinaus. Miriam* und Stefan* folgen mit Tambourin und Trommel. Gemeinsam mit der kraushaarigen Anja*, die im Rhythmus „Ru-he! Ru-he!“ brüllt und dazu in die Hände klatscht, zerschlägt das Trio lustvoll die Stille der hereinbrechenden Nacht. Dann stürmen sie zurück ins Haus. Anja und Tobias knallen die Türe zu, daß der kleine Blondschopf auf dem Plakat erzittert. „Ich habe Aids“, steht auf dem Plakat, „mit Krebs hätte ich eine Chance.“ Anja und Tobias können noch nicht lesen. Auch sie haben Aids.

Seit Mittwoch letzter Woche hallt wieder Kindergeschrei durch die Räume des „Aids-Forums“ in der Moabiter Bredowstraße. Ein Brandanschlag hatte dem Verein fast drei Monate das Obdach genommen. Eine schwere Zeit für die 70 Familien, denen das Aids-Forum Anlaufstelle, Ratgeber, manchmal einziger Kontakt zur Außenwelt ist. Seit gut einem Jahr kümmert sich das Aids-Forum um die Opfer der Immunschwäche- Krankheit, die von anderen Aids- Selbsthilfegruppen nicht angesprochen werden: von HIV-Infektionen betroffene Kinder und deren Eltern. „Die Menschen haben Vertrauen zu uns“, sagt Jo Kastner, der zusammen mit Gerda Hansen jeden Tag ehrenamtlich im Vereinsbüro verbringt. Die Atmosphäre in den hellen Räumen ist familiär, die Anonymität garantiert. Da öffnen sich auch Menschen, die sich nach schlimmen Erfahrungen abgekapselt hatten.

Schulfreunde, die nicht mehr mit einem spielen; der Nachbar, der einem verbietet, seinen Hund zu streicheln, „damit er sich nicht ansteckt“: Eine Mauer der Ablehnung. Markus Gärtner* war einmal „naiv und offen“ gewesen. Er hat zwei Pflegekinder, beide HIV- infiziert, aber noch nicht erkrankt. Der Vermieter rannte zu allen Nachbarn: „Der hat Aids-Kinder“, ereiferte er sich, „die schmeiß' ich raus.“ Nachbarn und Bekannte hielten zu Markus, aber schon beim Einschulen seines Ältesten, Michael*, fiel er „wieder auf die Schnauze“. Die anderen Eltern drohten mit Schulstreik. Als „Kompromiß“ verlangten sie schließlich, Michael solle immer eine auffällige Mütze tragen – Warnung für die anderen Kinder. „Ich hab' gelernt“, erklärt Markus, „ich erzähl's keinem mehr.“

Das Aids-Forum hilft. Nicht alle der rund 100 Kinder, die das Forum besuchen, sind HIV-infiziert; bei manchen ist es die Schwester oder die Mutter. Nur bei einem Teil von ihnen ist die Krankheit schon ausgebrochen. Und fast keines der erkrankten Kinder weiß um sein Schicksal. Hilfe benötigen meist die Eltern, oftmals bis ans Ende ihrer Kräfte erschöpft. Bei Kaffee und Kuchen tauschen sie sich aus, während die Kleinen im Kinderzimmer toben. Das Forum organisiert Kinderbetreuungstage und kurze Reisen, bei denen sich die zum Teil selbst erkrankten Eltern erholen können. Ab Mitte November gibt es regelmäßige Rhythmus-, Eurythmie- und Reitgruppen für die Kinder.

Vor allem im täglichen Ringen mit den Behörden muß Jo Kastner oft einspringen: „Viele wissen gar nicht, was ihnen an Unterstützung zusteht.“ Fast zwei Drittel der Kinder werden von alleinstehenden Müttern erzogen. Viele von ihnen sind ehemalige Drogenabhängige, die meisten leben von Sozialhilfe. „Kein Wunder“, sagt Kastner, „sie müssen für ihre Kinder sorgen und sind meist selbst krank.“ Wie Sibylle Fischer*. Ihr Mann ließ sie mit den beiden Kindern allein, als er erfuhr, daß sie Aids hatte und auch die jüngere Tochter das Virus in sich trug. Das Jugendamt hatte sich schon zu einem Hausbesuch angekündigt, als sie sich – geschwächt und überfordert – beim Aids-Forum meldete. Dem Forum gelang es, in aller Eile eine Familienhelferin für den Haushalt und eine Pflegehelferin zu organisieren. Mit Erfolg: Sibylle durfte ihre Kinder behalten.

Der Erfolg ihres Projekts wächst Jo Kastner und Gerda Hansen allerdings langsam über den Kopf. Allein letzte Woche stießen vier neue Familien zum Aids-Forum, das sich durch Spenden finanziert. „Wir schaffen es nicht mehr“, meint Gerda Hansen, die jeden Tag von morgens bis nachmittags an Telefon und Computer sitzt: „Wir brauchen endlich eine feste Stelle.“ Der Sachbearbeiter beim Senat machte ihnen wenig Hoffnung: Es tue ihm leid, beschied er sie, aber sie hätten einfach keine Lobby. „Unsere Frauen und Kinder“, meint Jo Kastner ein wenig resigniert, „werden aber nie auf eine Demo gehen.“

* Namen geändert. Aids-Forum Tel.: 396 75 05.