: „Kleine Bastarde“ – schuldig
In Liverpool wurden zwei Elfjährige als Mörder des dreijährigen James Bulger zu Freiheitsstrafen unbestimmter Länge verurteilt ■ Von Ralf Sotscheck
Dublin (taz) – „Es ist schwer zu verstehen“, sagte Richter Michael Morland am Mittwoch abend, „wie zwei geistig normale Jungen von durchschnittlicher Intelligenz ein Kind gnadenlos totschlagen können.“ Daß sie es vorsätzlich getan haben und für ihre Handlungen voll verantwortlich sind, stand für die Geschworenen in Preston bei Liverpool nach fünfeinhalbstündiger Beratung fest. Der Richter verurteilte Robert Thompson und Jon Venables zu Freiheitsstrafen von unbestimmter Länge – „für sehr, sehr viele Jahre“, fügte er hinzu. Die Mindeststrafe, die er dem Innenministerium empfehlen wird, bleibt geheim, dürfte jedoch bei 25 Jahren liegen.
Thompson und Venables, beide seit August elf Jahre alt, sind die jüngsten verurteilten Mörder in Großbritannien seit 250 Jahren. Beide hatten viel gemein: Sie lebten in Walton, einem „Innenstadtbezirk mit Priorität“, wie die Stadtverwaltung die Problemviertel euphemistisch bezeichnet. Beide Kinder mußten ein Schuljahr wiederholen und waren deshalb älter als ihre Mitschüler. Beide Elternpaare waren geschieden. Doch während Venables Eltern sich weiterhin gemeinsam um Jon und seine beiden Geschwister kümmerten, sahen Robert Thompson und seine sechs Brüder den Vater nie wieder, nachdem er 1988 die Familie verließ. Eine Woche später brannte das Haus der Familie durch einen Unfall ab.
Thompson scheint der Stärkere von beiden. Im Wintersemester schwänzt er 37 Tage die Schule und verübt häufig Ladendiebstähle. Venables beginnt zu schwänzen, nachdem er Thompson kennengelernt hat. Seit sein Vater ihn jedoch im vergangenem Winter täglich von der Schule abholt, versäumt er nur drei Tage unentschuldigt. Am 12. Februar dieses Jahres schwänzen die beiden zum vierten Mal gemeinsam die Schule. Sie gehen zum Einkaufszentrum in Bootle, einem Stadtteil im Norden Liverpools. Ein paar Stunden treiben sie sich in Geschäften herum.
Was danach geschieht, ist von Sicherheitskameras in Bruchstücken festgehalten: Während seine Mutter im Fleischerladen ansteht, verläßt der knapp dreijährige James Bulger unbemerkt das Geschäft und läuft im Einkaufszentrum umher. Kurz darauf wird er von zwei Jungen, die auf dem Videoband undeutlich zu erkennen sind, angesprochen und an der Hand zum Ausgang geführt. Thompson und Venables führen den kleinen James zum Leeds- und-Liverpool-Kanal, wo ihn Thompson zum ersten Mal zu Boden schleudert und ihm eine Kopfverletzung beibringt. Dann gehen sie an der Kirche von Bootle vorbei nach Walton, dem Nachbarstadtteil, wo die beiden Zehnjährigen wohnen. Sie gehen durch eine Unterführung und dann die Hauptstraße entlang, bis sie zum Eisenbahndamm gelangen, den sie hinaufklettern. Dort bewerfen sie James Bulger mit Ziegelsteinen, schlagen ihn mit einer schweren Eisenstange und treten ihm wiederholt ins Gesicht. Insgesamt bringen sie ihm 42 Verletzungen bei. Als sie ihn auf die Schienen legen, ist James vermutlich bereits tot. Ein Güterzug zerfetzt die Leiche am nächsten Morgen.
Auf der fast fünf Kilometer langen Strecke vom Einkaufszentrum zum Bahndamm begegneten den drei Kindern Dutzende von Menschen. Viele wunderten sich über James Bulgers Kopfverletzungen, manche sprachen die beiden älteren Kinder sogar an. Letztlich gaben sich alle jedoch mit der Erklärung zufrieden, daß die beiden ihren kleinen Bruder nach Hause bringen wollten. Sie werden sechs Tage später festgenommen, nachdem ein Onkel von Jon Venables der Polizei mitgeteilt hatte, daß sein Neffe gemeinsam mit Robert Thompson an dem Tag, als James Bulger ermordet wurde, die Schule geschwänzt hat.
Thompson und Venables wurden in Preston, 80 Kilometer südlich vom Tatort, vor Gericht gestellt, weil in Liverpool die Wogen hochschlugen. Dort hat man die Polizeiwagen, mit denen sie nach ihrer Festnahme getrennt zum Haftrichter gefahren wurden, mit Steinen beworfen. Auch in Preston versammelten sich während des Prozesses täglich mehrere hundert Menschen vor dem Gericht und forderten den Kopf der Angeklagten. Thompsons Mutter mußte aus Walton wegziehen, nachdem sie bedroht und das Haus mit Graffiti besprüht wurde.
Wären Thompson und Venables acht Monate jünger gewesen, hätten sie strafrechtlich nicht belangt werden können. Großbritannien hat eine der niedrigsten Altersgrenzen für Strafmündigkeit in Europa: Sie liegt in England und Wales bei zehn, in Schottland sogar bei nur acht Jahren. Entscheidend für eine Verurteilung eines Kindes unter 14 ist der Beweis, daß es zur Tatzeit zwischen Recht und Unrecht unterscheiden konnte.
Man hatte zwar die Anklagebank erhöht, damit die beiden über die Balustrade sehen konnten, aber was in dem Gerichtssaal vor sich ging, haben sie dennoch nicht verstanden. Bei Polizeiverhören haben sie sich gegenseitig belastet. Auch Venables Eltern und Thompsons Mutter schieben jeweils dem anderen Jungen die Schuld zu. Das Motiv bleibt im dunkeln. Der Polizeibeamte, der die Untersuchung geleitet hat, bezeichnete die beiden Kinder als „Monstren“, als „Launen der Natur“. Während der 13tägigen Verhandlung wurde das Wort kein einziges Mal an sie gerichtet. Aber sie mußten anwesend sein, so schreibt es das Gesetz vor. Nach der Urteilsverkündung wurden beide weinend abgeführt.
Für Thompson und Venables ist die Kindheit zu Ende. Sie werden in getrennten Verwahranstalten untergebracht, wo sie unterrichtet werden und „soziales Verhalten“ lernen sollen. Mit 18 wird man sie in eine Jugendstrafanstalt überstellen, mit 21 kommen sie in ein normales Gefängnis für Erwachsene. Nach der Urteilsverkündung rief der Onkel von James Bulger den beiden Mördern zu: „Wie fühlt ihr euch jetzt, ihr kleinen Bastarde?“
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