piwik no script img

Sei immer treu wie Gold

Lose zusammenhängende Gedanken über die neue Unlust an der Stasi-Debatte  ■ Von Marko Martin

Als ich kürzlich nach Berlin eingeladen wurde, um an einer Diskussion über „Staatssicherheit und Literatur“ teilzunehmen und über die „Sprache des MfS“ zu referieren, waren gerade wieder die Rufe nach schneller Aktenvernichtung laut geworden: Der Kanzler und selbst der Gottes-Mann aus Wittenberg (letzterer plädierte gar als guter Christ für ein apokalyptisches „Freudenfeuer“) wollten die Notizen des Geheimdienstes schnell entsorgen lassen. Den Teilnehmern der Veranstaltung aber ging es um Aufklärung, Forschung, Selbstvergewisserung. Es schien allerdings, als hätte ihr couragiertes Festhalten an einem Thema, das vielen aus sehr nachvollziehbaren Gründen gar nicht paßt, die meisten ihrer Kräfte absorbiert: Damit beschäftigt, dümmliche Attacken und hochintelligente Verhinderungsstrategien abzuwehren, droht ihnen der Gesamtzusammenhang zu verschwinden.

Eine falsche Bescheidenheit, die Folgen haben könnte. Denn längst geht es nicht mehr um eine rein innerdeutsche Debatte, um ein DDR-Problem. Dürfen Westler, die nicht im Osten lebten, sich dazu pointiert äußern? In Frankreich gibt es zur Zeit eine Debatte um die Gültigkeit universeller Werte, die Einmischung nötig machen. Oder, so die Alternative, relativiert sich alles in den unterschiedlichsten Kulturen, Regionen und Religionen? Die „Neue Rechte“ nennt den Universalismus einen verkappten Rassismus und rührt folgerichtig auch keine Hand für die derzeit in Algerien verfolgten Künstler und Intellektuellen, die wegen ihrer liberalen Ausrichtung der Islamischen Heilsfront ein Dorn im Auge sind. Manche Linken argumentieren genauso: andere Länder, andere Sitten...

Dessenungeachtet haben französische Intellektuelle um den Soziologen Pierre Bourdieu ein internationales Unterstützerkomitee gegen neurechte Infiltrierung ins Leben gerufen. Was hat das mit einer in Pankow geführten IM-Diskussion gemeinsam? Daß hier kein Talkshow-Getöse herrschte, sondern Aufmerksamkeit. Ein Blick auf das observierte Individuum, der es in seiner „Ganzheit“ wahrnehmen wollte, verstörte manchen. Ganzheit, Authentizität, Tiefe – sollen uns diese Werte jetzt auch noch madig gemacht werden? „Unsere Christa ist die Beste“, rief ein Zuhörer während der Veranstaltung. Eine andere Wortmeldung war allerdings weniger amüsant. Eine ältere Frau stand auf, nach Worten suchend, die Hände in fahriger Bewegung. Als Tierärztin wurde sie in den fünfziger Jahren von der Stasi mit einem Kunstfehler konfrontiert, erpreßt, bedroht und zur IM-Tätigkeit gezwungen. Nach einigen Wochen fand die Frau den Mut, nein zu sagen, die Stasi ließ sie ziehen, bis heute fällt es ihr schwer, darüber zu sprechen. Eine übliche Geschichte. Aber jetzt kommt es: Die Stasi hatte verlangt, daß sie sich ihren IM-Namen selbst aussuchte, sie wurde für kurze Zeit der IM „Treu“. Das muß man erlebt haben: diese noch nach Jahrzehnten um Fassung ringende Frau, die am ganzen Leib zittert und sich erinnert, wie sie in diesem deutschen Amtszimmer nach einem Namen sucht. Der Spruch ihrer Großmutter sei ihr damals „zum Glück“ eingefallen: „Sei immer treu wie Gold.“ So wurde der IM „Treu“ geboren. Die Frau setzte sich wieder. Man schwieg und sprach anschließend weiter über die Akten. Die verheerende Geistestradition, der Bezug zur Gegenwart, blieb außen vor. „Treu wie Gold“, diese Medizin aus der Hausapotheke deutscher Innerlichkeit und ihr komplettes Versagen vor dem Ansinnen eines Repressionsapparates – kein Thema? Die Innerlichkeit der DDR-Literatur und die Sklavendienste ihrer Autoren – kein Zusammenhang, dem nachzugehen sich lohnte? Und heute: die Heimkehr zur Nation, die künstliche Aufpäppelung „alter Werte“ als angeblicher Schutz vor Nihilismus und Gewaltbereitschaft. Immer wieder das alte Lied, edel und hochgestimmt und ganz verwundert, wenn man wie von selbst in Marschschritt oder schlichtes Verpfeifen verfällt. Würde dieser Zusammenhang endlich klar, würde man sich vielleicht weniger über jenen Dichter wundern, der so gefühlig dichtete „Ich ging ins Ausland, um Orchideen zu suchen“, um dann im Stasi-Auftrag in Paris die Wohnung von Efim Etkind auszuspionieren und in Moskau Lew Kopelew anzuschwärzen.

Zivile Tugenden, Individuen, die sich nicht als Priester, sondern als Citoyens wichtig nehmen, und Amtspersonen bei Bedarf die Tür vor der Spitzel-Nase zuschlagen – sie mußte man in der DDR-Literatur mit der Lupe suchen. Prügele man aber die Ossis nicht stellvertretend für den Geschmack der Nation: Schon stehen mit Botho Strauß und Hans Magnus Enzensberger zwei westdeutsche Schlauberger bereit, die den Rückzug „ins Eigene“ empfehlen – tümlich der eine, etwas trendiger der andere. Nachdem man beim Weltretten gescheitert ist, will man nun wieder zu sich selbst kommen. Nur nichts aufwühlen – wenigstens im Willen zur Amnesie scheinen sich die Deutschen von der PDS bis zum Kanzler wiederzufinden. Der „Stasi-Debatte“ genannte Aufklärungsversuch über die zweite deutsche Diktatur könnte der erste sein, der sich dieser neuen Gemütslage beugen müßte. Von seinen Protagonisten ist deshalb zu hoffen, daß sie sich dieser Gefahr rechtzeitig bewußt werden, daß sie ohne missionarischen Eifer in die Offensive gehen und ihre Problematik als Teil eines viel größeren Problems erkennen.

Und wenn man dann wieder in Paris gelandet ist, hat man nicht nur ein Air-France-Frühstück verkonsumiert, sondern auch einen Blick in den ausliegenden Flugbegleiter geworfen, ein farbiges Heftchen mit Lagerfeld-Reklame und Claudia Schiffers Lächeln. Alle angeflogenen Städte sind da verzeichnet, durch rote Linien miteinander verbunden und die Schnittpunkte durch dicke Punkte markiert. München, Venedig, Belgrad, Zagreb. Um Sarajevo führt in zwei Millimeter Entfernung die rote Linie vorbei. Man muß genau hinsehen, um überhaupt den Abstand zu erkennen. Ganz friedlich und normal sieht das aus. So leicht ist es, Zusammenhänge herzustellen oder zu lösen. Man muß nur die Linien richtig ziehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen